Olympia:Schuss der Spiele

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Letzter Akt: Neymar verwandelt gegen Timo Horn den entscheidenden Elfmeter im Finale des Fußballturniers. (Foto: Michael Reynolds/dpa)

Mit dem Triumph im olympischen Fußballturnier ist Brasiliens 1:7-WM-Schmach gegen Deutschland nicht vergessen. Aber die Wunde kann sich schließen. Neymar setzt das erste Zeichen: Er will nie wieder Kapitän sein.

Von Thomas Kistner, Rio de Janeiro

Diesmal wurde nur nach dem Spiel geheult. Neymar lief an zum letzten Versuch im Elfmeterschießen, das 78 000 Menschen fassende Meer aus gelben Shirts auf den Rängen ringsum trieb ihn voran, er hielt inne, trippelte, dann versenkte er den Ball halbhoch rechts, der deutsche Keeper Timo Horn war nach links abgetaucht. Das Maracanã explodierte. Neymar sank auf die Knie, Hände gen Himmel, Hände vors Gesicht, er landete auf dem Bauch und blieb so reglos liegen, dass inmitten der Tumulte besorgte Betreuer herbeieilten: Gottseidank, die Kollegen hatten ihn nicht erdrückt! Es war nur ein Krampf. Ein Weinkrampf, und hätten sie jetzt alle Weinkrämpfe ihrer brasilianischen Olympiasieger lösen wollen, wären sie in der nächsten Viertelstunde voll ausgelastet gewesen.

Neymars goldener Schuss war natürlich fürs Vaterland, aber vor allem einer für die heimischen Geschichtsbücher. Mit dem 5:4-Sieg (1:1 n.V.) im Shootout über die deutsche Auswahl löschte die Seleção eine Reihe von Traumata aus. Es war das erste Gold nach dreimal Silber und zweimal Bronze bei den Spielen. Zugleich wurde das Maracanã der ins Mythische drängenden Vorherrschaft fremder Eroberer entrissen: 2014 waren hier die Deutschen Weltmeister geworden, erst am Vortag feierten hier auch die DFB-Frauen ihren Olympiasieg. Noch so ein Coup, und die Umbenennung in Estadao Alemao hätte sich angeboten. Und dann, vor allem: Der Fluch des Sete a Um wurde gebrochen. Dieses 7:1, erlitten im WM-Halbfinale gegen Deutschland.

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Nicht, dass das jetzt vergessen und vergeben wäre. Aber der Olympia-Triumph hilft, die Wunde zu schließen. Es hat ja keine Strandbar und kein Taxi, keine Zeitung oder TV-Sendung gegeben in diesen vier Tagen zwischen Halbfinale und Endspiel, wo nicht das 7:1 zentraler Gesprächsstoff war. Nun darf der Schorf wachsen. Exorzieren konnten die Junioren den bösen Dämon ihrer Altvorderen nicht, doch wäre die Seleção erneut unterlegen, hätte auch die Bitternis eine neue Dimension erreicht.

Die hätte die rasante Entwicklung der jungen Wilden um Neymar auf Nationalteam-Ebene gestoppt - so, wie das bei der A-Auswahl zu besichtigen ist, die sich seit dem 7:1 nur noch als Karawane der Angst durch ihre Spiele schleppt, zuletzt bei zwei Copa-America-Turnieren, und dabei ein verlässliches Abbild des Krisenlandes liefert. Und schließlich: Eine Niederlage hätte Brasilien nach der WM auch noch die Olympischen Spiele im eigenen Land verhagelt.

Stattdessen ist es auf Rang vier des gefühlten Medaillenspiegels vorgerückt: In landesweiten Umfragen war ja ermittelt worden, wie viel der Sieg im Fußball-Finale hier wiegt: wie 13 Mal Gold in anderen Sportarten. Jetzt ist alles gut. Das Gefühl entscheidet in diesem Land, wo nach dem Stolperstart der Seleção zehn Tage zuvor der Name Neymars schon auf Kindertrikots durchgestrichen und durch den der Frauen-Heldin Marta ersetzt worden war - die dann mit Brasiliens Olympiaauswahl im Spiel um Bronze an Kanada scheiterte.

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"Wir haben eine feurige, leidenschaftliche Kultur", erklärte Goldtrainer Rodrigo Micale die extremen Stimmungsbilder, "heute hassen wir uns, morgen lieben wir uns!" Es sei brutal, das Schiff Seleção auf allzeit schwankenden Planken zu steuern, "aber ich bin stolz, Brasilianer zu sein".

Als Micales größter Erfolg darf gelten, dass er seinen Jungs eine eigene Identität vermittelte. Keiner, Neymar eingeschlossen, hatte zwar beim 7:1 auf dem Rasen gestanden, doch welche gewaltigen Emotionen der vaterländische Druck erzeugt hatte, war ja gleich nach dem Elfmeterschießen zu besichtigen. So war von Anfang an alles anders aufgezogen worden als bei den Senioren. Wo jene bei der Hymne vorm Spiel noch Arm in Arm verschlungen standen und so intensiv mitbrüllten, dass Stirnadern anschwollen und Augen aus den Höhlen traten, standen die Jungen jeder für sich, der Nationalfahne zugewandt, die rechte Hand auf dem Herzen. Manche sangen gar nicht, andere nur leise mit. Das sparte die Vitalität für ein Spiel auf, in dem die Seleção das deutsche Team phasenweise so bedrängte, dass ihm keine Ballstafette über mehr als drei Stationen gelang.

Die Schlüsselszenen musste aber Neymar setzen. Dem finalen Elfmeterschuss war ein Freistoß nach 26 Spielminuten vorausgegangen, der von der Lattenunterkante ins Tor prallte. Max Meyer, der Junioren-Kapitän aus Schalke, glich zwar aus (59.) nach einer von wenigen bis vors brasilianische Tor führenden Kombinationen; danach spielten meist nur die Hausherren.

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Micale hatte ein kreatives Chaos zum Konzept erhoben, nach zwei torlosen Remis zum Auftakt gegen Südafrika und Irak zog er mit vier Stürmern ins Gefecht - Neymar, Luan sowie die beiden Gabriels, Jesus und Barbosa -, die auch kräftig nach hinten arbeiten mussten. Das funktionierte, weil das Kollektiv funktionierte. Und Neymar blühte allmählich in der zentralen Position auf. Am Samstag war er so weit, die Auftritte der erstmals schwächelnden Gabriels auf den Flügeln zu kompensieren.

Dieses Finale war auch seine Abrechnung mit dem Land, das einen Steuerprozess gegen ihn führt, und mit den vielen Kritikern, die ihn als unreif bezeichnet und ihm jede Führungsqualität abgesprochen hatten. TV-Kritiker vom Fach wie Neto, Ex-Profi von Corinthians, dem Neymar und Kollegen nun wortlos ihre Goldmedaillen in den Netz-Account stellten, oder wie Zico, der ihm die Kapitänseignung abgesprochen hatte. Als die Tränen versiegt waren, gab Neymar mit dramatischer Geste das Kapitänsamt in der Seleção ab. Und zur Goldfeier im Stadion erschien er mit einem Stirnband, auf dem "100% Jesus" stand.

Das überraschte, starke Gottesnähe war von ihm nicht bekannt. Aber Beten hilft immer in diesem Land, das einen Christus als Wahrzeichen hat. Wenn Olympiasieger Neymar die Karriere fürs Land nun so fortsetzt, werden sie ihm am Ende auf einem Nachbarhügel eine eigene Ikone errichten. Die Stimmung ist schon wieder danach.

© SZ vom 22.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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