Gehen bei Olympia:Silber in der Disziplin ohne Zukunft

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Letzte Möglichkeit genutzt: Jonathan Hilbert freut sich über die bislang größte Leistung seiner Karriere. (Foto: Shuji Kajiyama/dpa)

Der unerwartete Medaillengewinn des 50-Kilometer-Gehers Jonathan Hilbert erzählt von der Kraft der zweiten Chance - und einem Problem für eine unterschätzte Sparte.

Von Johannes Knuth, Tokio/München

Schwer zu sagen, wie man so was eigentlich herbeiführt. Beim Geher Jonathan Hilbert war es jedenfalls plötzlich da, dieses spezielle Gefühl: "Ich bin heute früh aufgewacht", sagte Hilbert am Freitagmittag, "und habe sofort gemerkt, das wird ein spezieller Tag." Es wäre ja mal interessant zu erfahren, wie viele Kollegen über die Jahre mit einem ähnlichen Gefühl aus dem Bett stiegen und dann in einen wenig erbaulichen Tag aufbrachen, aber wie das so ist: Alles will man wissen, das Meiste bleibt einem verschlossen. Bei Hilbert hatte der Eindruck jedenfalls nicht getrogen, Silber über 50 Kilometer Gehen, am Freitag in der olympischen Außenstelle Sapporo, das geht durchaus als speziell durch.

Es gibt bei jeder großen Sportlermesse, grob gesagt, zwei Spezies von Medaillenbeschaffern: die Favoriten, die immer auch einer Mannschaft Halt geben mit ihrer Verlässlichkeit, und die Unerwarteten, auf die auch der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) in Tokio wieder angewiesen ist, weil selbst Favoritenpläne doch gerne mal zerbröseln. Hilbert gehört zweifellos letzterer Kategorie an. Sie hatten sich im DLV in den Geher-Wettbewerben ja schon etwas ausgerechnet, die erste Olympiamedaille seit 29 Jahren, als der heutige Bundestrainer Ronald Weigel Dritter über 50 Kilometer wurde. Eine vergleichbare Tat hatten sie nur eher Christopher Linke zugetraut, am Donnerstag Fünfter über 20 Kilometer - nicht Hilbert, dem 26-Jährigen von der LG Ohra Energie Thüringen, der in der Vorbereitung durch einen See an Verletzungen gewatet war. Aber gut: Wer am Morgen, an dem es zählt, gut drauf ist, der kann sich schon mal vornehmen, "diese letzte Möglichkeit" zu nutzen, wie Hilbert sagte. Denn er selbst mag einer für Gegenwart und Zukunft sein - seine Silberstrecke ist es nicht. Nach Tokio wird sie aus allen internationalen Großevents fallen.

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Jonathan Hilbert wird für seinen überraschenden Silber-Gewinn im Gehen von seinem Trainer gefeiert. Im Ziel schickt er unter Tränen eine emotionale Botschaft in die Heimat.

Alles schön in ihrer Nische? Das würden die Geher nicht behaupten

Hilberts Erfolg erzählte zunächst einmal die Geschichte von großer Zielstrebigkeit, auch von der Stärke, die aus einer Nische erwachsen kann. Er war von Mühlhausen früh an die Sportschule nach Erfurt gewechselt, gut auf der Mittelstrecke, aber nicht gut genug. Er begriff den gesenkten Daumen der Trainer erst als Degradierung, dann als Chance, es bei den Gehern zu probieren: dieser von vielen oft belächelte Übung, bei der die Athleten ihre Beine durchdrücken, als hämmerten sie stundenlang auf ein Schlagzeugpedal - kann jeder Olympiazuschauer ja mal ausprobieren. Hilbert knüpfte jedenfalls rasch Erfolge aneinander, vor zwei Jahren wurde er im Backofen von Doha 23. bei der WM, im vergangenen April in 3:43:44 Stunden deutscher Meister. Spätestens da war klar, dass die kleine Leistungsschmiede der Geher wieder eine Begabung hervorgebracht hatte, mit ihren Stützpunkten in Erfurt, Potsdam und Baden-Baden. "Das ist schon unsere Stärke, dass nicht jeder sein Ding macht, sondern wir als leistungsstarke Gruppe zusammenarbeiten", hatte Christopher Linke vor zwei Jahren im Gespräch gesagt. Auch das ist nicht immer selbstverständlich in einem Einzelsport: dass viele auch mal ihr Ego zurückstellen, um voranzukommen.

Sieht sonderbar aus, fällt deshalb aber auf: Das Gehen ist eine Disziplin, bei der die Athleten ihre Beine durchdrücken, als hämmerten sie stundenlang auf ein Schlagzeugpedal. (Foto: Ju Huanzong/dpa)

Dass alles schön ist in ihrer Nische, würden aber nicht mal die Geher behaupten. Selbst Leistungsträger wie Linke kamen eher durch Zufall zum Sport, weil sie in der Nähe eines Stützpunktes wohnten und ihnen diese sonderbare Trainingsgruppe auffiel ("Könnt ihr nicht laufen, oder was?"). "Wenn wir nicht in der Öffentlichkeit gezeigt werden, ist es einfach sehr, sehr schwer, Nachwuchs zu gewinnen", weiß Linke heute. "Wenn du noch nie davon gehört hast, dass es Zehnkampf gibt - wie willst du da Zehnkämpfer werden?" Der eigene Verband macht es ihnen auch nicht immer leicht, vor zehn Jahren wurden sie aus dem Programm der nationalen Titelkämpfe delegiert, "aber zu eigenen Meisterschaften kommen nur die, die sich eh für den Sport interessieren", sagt Linke. Vor zwei Jahren fand sich für die Titelkämpfe über 50 Kilometer nicht einmal ein Ausrichter. Und den Beschluss des Weltverbandes (WA), die Langstrecke ganz zu eliminieren - zu Gunsten eines 35-Kilometer-Wettbewerbs oder einer Mixed-Staffel - konnte der DLV schon deshalb schlecht bekämpfen, weil er seit 2015 keinen Vertreter im Council der WA mehr stellt.

"Eigentlich schade, dass es auch bei Olympia nur noch nach Einschaltquoten, nach Spaß und Kurzweiligem geht", sagt Linke. "Für mich ist Olympia auch ein Fest der Traditionen und der Sportler, die sonst nicht im Mittelpunkt stehen. Da geht auch der olympische Gedanke verloren."

Der Abschlussball am Freitag stellte zumindest noch mal alle Reize der längsten Langstrecke aus: Der Pole Dawid Tomala flüchtete früh aus dem Feld, lag zwischenzeitlich drei Minuten vorne, dahinter die Verfolger. Hilbert machte sich dann mit dem Spanier Marc Tur davon, und als alle Hauptpreise verteilt zu sein schienen, verlor Tur doch noch Bronze an den Kanadier Evan Dunfee - und Hilbert hätte fast sogar den Olympiasieger geschnappt, der nach 3:50:08 Stunden eintraf, 36 Sekunden vor dem Deutschen.

Aber dessen Tag war ja auch so speziell genug.

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