Kanu bei Olympia:Tränen im Boot, an Land, in die Flagge hinein

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Überwältigt von den Emotionen: Ronald Rauhe nach seinem letzten olympischen Kanurennen in Tokio. (Foto: Yara Nardi/Reuters)

Der deutsche Kanute Ronald Rauhe gewinnt bei seinen sechsten Olympischen Spielen mit dem Vierer noch einmal Gold. Eine große Karriere geht zu Ende - zur Abschlussfeier darf er die Fahne ins Stadion tragen.

Von Saskia Aleythe, Tokio

Die Hymne schüttelte ihn durch. Auf dem Kopf saß der Olivenkranz, wie ihn in Athen 2004 alle Medaillengewinner trugen, das Gesicht benetzt mit Tränen. Ronald Rauhe schluchzte so ergriffen wie jemand nur schluchzen kann bei seinem Olympiasieg an der Seite von Bootskamerad Tim Wieskötter, und das war dann ein hübscher Kontrast zu der mächtigen Erscheinung des Kraftpaddlers. "Athen 2004" trägt er als Tattoo auf dem Fuß, in griechischen Buchstaben, bei jedem Schritt läuft die Erinnerung mit, die ihn am meisten geprägt hat. Am Samstagmittag in Tokio weinte er wieder. Im Boot, an Land, in die Fahne hinein.

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Und dann: die Hymne. Diesmal ohne Kranz im Haar, Rauhe trägt jetzt ohnehin Glatze, und die tätschelte ihm Kollege Max Rendschmidt dankbar und aufmunternd. Schließlich kämpften in dem 39-Jährigen die Gefühle miteinander: Begeisterung dafür, dass er bei seinen sechsten Olympischen Spielen noch einmal Gold gewinnen konnte, mit dem Vierer über 500 Meter. Und Wehmut, dass nun ein langes Kanutenleben zu Ende ging.

"Ich habe daran keine Sekunde gezweifelt", sagte Rauhe, als er gerade mal nicht gegen die Tränen kämpfte, "ich bin das Rennen Hunderte Male durchgegangen im Kopf." Für ihn war die Verschiebung der Olympischen Spiele um ein Jahr besonders schwer, er hatte lange mit sich gerungen, ob das Familienleben weiter hintenanstehen solle.

Enges Finale: Max Rendschmidt, Ronald Rauhe, Tom Liebscher und Max Lemke siegen über die 500 Meter vor den Viererkajaks aus Spanien und der Slowakei. (Foto: Jan Woitas/dpa)

Regengüsse waren schon einige an diesem Tag in Tokio hinuntergerauscht, doch pünktlich zum letzten Finale des Tages klarte der Himmel auf. Gemeinsam mit Schlagmann Rendschmidt, 27, Tom Liebscher, 28, und Max Lemke, 24, ging es auf die Strecke im Seaforest Waterway, nach 250 Metern hatten die Spanier neben ihnen einen leichten Vorsprung.

"Wir wussten, was wir können am Ende", sagte Rendschmidt später, er erhöhte die Frequenz, und die anderen zogen mit. Es war ein enges Finale, dann glitt die deutsche Bootsspitze als erstes über die Linie. Rauhe hatte in seiner Euphorie schon beim letzten Schlag vor dem Ziel nicht mehr mit dem Paddel durchgezogen. "Die Emotionen haben mich da schon überrannt", sagte er. Die Spanier, die die Deutschen beim letzten Weltcup noch bezwungen hatten, holten Silber vor der Slowakei auf dem Bronze-Rang. "Das war das beste Rennen seit fünf Jahren", sagte Bundestrainer Arndt Hanisch. Er war im Überschwang mit Rendschmidt ins Wasser gesprungen.

Vielleicht hat ein Routinier wie Rauhe den Sieg schon im Gefühl, bevor er feststeht: Es war seine fünfte Olympia-Medaille - fast jedes Mal, wenn er antrat, nahm er ein glänzendes Souvenir mit nach Hause. Als 17-Jähriger feierte er seine Olympia-Premiere in Sydney, gewann gleich Bronze im Zweier. Max Lemke, sein Bootskollege in Tokio, war da noch nicht mal vier Jahre alt.

Ursprünglich sollten die Spiele in Rio 2016 schon die letzten von Rauhe sein

Vier Männer in einem Boot, das sind auch vier Geschichten und Charaktere, die sich vereinen lassen müssen. "Das hat das letzte Quäntchen ausgemacht, dass wir als Team immer zusammengehalten haben", sagte Liebscher, "auch wenn wir uns eine Zeit lang gar nicht ausstehen konnten. Der Wille heute war unglaublich."

Auf diese Gold-Medaille hatte das Team alles ausgerichtet in den vergangenen Jahren. Einzelstarts wurden in Tokio nicht eingeplant, es sollte alle Energie in den Olympiasieg fließen. "Klar hätten wir auch in dem ein oder anderen Wettbewerb um Medaillen kämpfen können, doch wir haben alles dem Ziel Gold untergeordnet", sagte Rendschmidt. Durch die Verschiebung der Spiele mussten sie den Formaufbau für Olympia gleich zwei Mal durchmachen, was für einen Vierer viel Organisation bedeutet. Sie leben an unterschiedlichen Orten, kommen für die Trainingslager aus Essen, Dresden und Potsdam zusammen. Die Pandemie hat das nicht gerade vereinfacht.

Ursprünglich sollten die Spiele in Rio vor fünf Jahren schon die letzten von Rauhe sein, nach der WM 2017 wollte er seine Karriere beenden. Doch als der Vierer dann im Olympia-Programm von 1000 auf 500 Meter Rennstrecke verkürzt wurde, hat er Tokio doch noch in Angriff genommen. Als Sprinter unter den Paddlern ist er ein Liebhaber der kurzen Strecken, und im Vierer konnte er sich mit erfolgreichen Kollegen zusammentun: Liebscher und Rendschmidt waren in Rio zu Gold gepaddelt mit Max Hoff und Marcus Groß. Für die kürzere Distanz musste das Boot neu zusammengesetzt werden, es brauchte jetzt auch Experten für die schnelle Beschleunigung wie Rauhe.

Bei der Anreise nach Tokio wurde ihr Boot beim Verladen in Luxemburg von einem Gabelstapler zerstört

Die Verschiebung der Spiele um ein Jahr machte Rauhe dann aber zu schaffen. Oft plagte ihn ein schlechtes Gewissen, weil seine Frau Fanny Fischer - 2004 selber Olympiasiegerin im Vierer - mit den beiden Kindern allein war, viel kompensieren musste. Nun, am Tag seines Gold-Rennens in Tokio, verpasste Rauhe die Einschulung seines Sohns. "Trotzdem habe ich heute ein Foto bekommen, wo sie um 3 Uhr nachts wach waren und mein Rennen geguckt haben", sagte Rauhe, dann brach kurz die Stimme weg, er wischte sich über die Augen. "Sie haben einen ganz großen Anteil daran."

Bei der Anreise nach Tokio war ihr Boot beim Verladen in Luxemburg von einem Gabelstapler zerstört worden. Es ist speziell für sie angefertigt, in einer eiligen Mission wurde schließlich das baugleiche Ersatzboot nach Japan geschickt. Die Farbe Pink hat Tradition, und sie war den Kanuten wichtig. Früher wurde das Boot so eingefärbt, um auf den Zielfotos einen optischen Vorteil zu haben, bei neueren Kameras spielt es keine Rolle mehr. Dennoch gilt es den Kanuten als Glücksbringer. "Als ich klein war, haben ich die pinken Boote bei Olympia gesehen", sagte Rauhe, "jeder Kanute, der in Deutschland aufwächst, strebt danach und wünscht sich, wie im Kindheitstraum bei Olympia im pinken Boot zu sitzen."

Für ihn ist es damit nun vorbei, aber eine besondere Ehre wird ihm noch zu teil: Er darf bei der Abschlussfeier in Tokio die deutsche Fahne tragen. "Ich habe keinen Athleten erlebt, der so den ganzen Verband prägt mit seiner Art und Professionalität", sagte Teamkollege Liebscher noch, und all das Lob füllte wieder Rauhes Augen. Eine Eröffnungsfeier hat er trotz sechs Spielen noch nie miterlebt, er ist also auch noch nie in ein Stadion einmarschiert. "Eine Fahne aus dem Stadion rauszutragen, ist für mich die Krönung neben der Goldmedaille", sagte Ronald Rauhe noch. Vermutlich fließen auch am Sonntagabend noch Tränen.

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