Eishockey:Blindflug mit Co-Pilot

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Er hat wieder Spaß am Eishockey: Evan Barratt. (Foto: Thomas Hahn/Sportfoto Zink/Imago)

An der Seite seines vertrauten Sturmpartners Charlie Gerard hat Evan Barratt den Schritt aus den USA zu den Nürnberg Ice Tigers gewagt - wo der 24-Jährige auf Anhieb eine tragende Rolle einnimmt.

Von Christian Bernhard

Im Nürnberger Eishockeykosmos waren am vergangenen Wochenende wieder einmal alle Augen auf Patrick Reimer gerichtet. Die Nürnberg Ice Tigers, deren langjähriger Kapitän der beste Torschütze in der Geschichte der Deutschen Eishockey Liga (DEL) war, zogen dessen Trikot mit der Nummer 17 feierlich unter das Hallendach. Es war ein weiterer emotionaler Moment für den 40-Jährigen, der im Frühjahr seine Karriere beendet hat. Was die zum ersten Mal nach elf Jahren ohne ihn antretenden Ice Tigers in den ersten DEL-Spielen zeigten, gefiel Reimer dann sehr gut. Der Saisonstart kann trotz der 3:5-Derbyniederlage am vergangenen Sonntag in Augsburg als gelungen eingestuft werden, sechs Punkte sind nur einer weniger, als der aktuelle Meister München geholt hat.

Dass es sich in Franken auch ohne Reimer gut angelassen hat, liegt auch an Evan Barratt. Der 24-jährige US-Stürmer zeigt bei seiner ersten Europa-Station keine offensiven Anlaufschwierigkeiten und ist bereits ein zentrales Element im Spiel von Ice-Tigers-Trainer Tom Rowe. Seit der Auftaktniederlage in Köln hat Barratt in allen Spielen gescort. "Um ehrlich zu sein, will ich einfach wieder Spaß daran haben, Eishockey zu spielen", sagt er.

Es dürfte an den hohen Erwartungen liegen, die ihn seit jungen Jahren begleiteten, dass Barratt dieser Spaß überhaupt abhanden kam. U18-Weltmeister war er, mit der U20 holte er WM-Silber, wem solche Erfolge gelingen, der hat berechtigterweise die NHL im Visier. Doch die nordamerikanische Profiliga verlor Barratt aus den Augen - auch wegen der Corona-Pandemie. Just in den zwei Jahren, in denen der junge Mann aus Bristol, Pennsylvania, die NHL-Klubs auf sich aufmerksam machen wollte, war in vielen Ligen an einen geregelten Alltag nicht zu denken. Und als ihm die Chicago Blackhawks eine Chance geben wollten, kam wieder Corona dazwischen, da der Traditionsklub alle verfügbaren Spielerlizenzen aufgrund von Corona-Ausfällen bereits vergeben hatte.

Nach vier DEL-Spieltagen kommt das statistisch beste Überzahlspiel der Liga aus Nürnberg

Das alles führte dazu, dass er eine "verrückte Entscheidung" traf, wie er es nennt: den Sprung nach Europa in einem für nordamerikanische Spieler ungewöhnlich jungen Alter. Deutschland fühlte sich für ihn wie ein "Blindflug" an, erzählt er, Barratt wusste so gut wie nichts über sein neues Umfeld. Selbst die Kontakte zu anderen nordamerikanischen Spielern in Deutschland waren bei ihm äußerst spärlich, lediglich Wolfsburgs Chris Wilkie kannte er, der ihm ein bisschen was über Deutschland erzählen konnte, "sonst niemand".

Auf dem Eis hatte er trotzdem wenig Anpassungsprobleme, das liegt wohl auch an Charlie Gerard. Sein kongenialer Partner aus der vergangenen Saison hatte sich vor ihm für Nürnberg entschieden, das erleichterte auch Barratts Schritt. Ihr gutes Gespür für die Spielweise des anderen mache auf der größeren Eisfläche in Europa "sogar noch mehr Spaß", betont Spielmacher Barratt, der es liebt, den wendigen Gerard in Szene zu setzen. Nationalspieler Daniel Schmölz komplettiert die erste Angriffsreihe der Ice Tigers mit seiner physischen Präsenz. Am meisten Spaß macht es Barratt und Gerard in Überzahl - und damit in einem Aspekt des Spiels, das in den vergangenen Spielzeiten oft ein Sorgenkind der Franken war. Dank ihrer guten Chemie sowie der Ruhe des neuen schwedischen Verteidigers Ludwig Byström an der blauen Linie tun sich nun ganz neue Powerplay-Perspektiven auf: Nach vier DEL-Spieltagen kommt das statistisch beste Überzahlspiel der Liga aus Nürnberg, die Erfolgsquote von 44 Prozent ist herausragend.

Und so hoffen sie im Ice-Tigers-Umfeld, dass dem in Nordamerika gut vernetzten Sportdirektor Stefan Ustorf mit Barrats Verpflichtung ein ähnlicher Coup gelungen ist wie vor zwei Jahren, als er Gregor MacLeod von den Nürnbergern überzeugen konnte. Der kanadische Angreifer war damals noch ein Jahr jünger als Barratt jetzt und performte so gut, dass die Ice Tigers beim Versuch, den Vertrag mit ihm zu verlängern, nicht nur an die Grenzen des finanziell Machbaren kamen, sondern weit darüber hinaus. Sie konnten nicht mithalten, McLeod spielt nun in Köln. In Nürnberg wissen sie natürlich, dass ihnen das wieder blühen könnte: Wird Barratt zu gut, wird er mittelfristig nicht zu halten sein. Doch dieses Risiko gehen sie gerne ein.

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