Es gab einmal eine Zeit, da wurden die Australian Open "Happy Slam" genannt. Turnierdirektor Craig Tiley schreibt die Namensgebung dem Schweizer Roger Federer zu, der all die schönen Seiten des ersten Grand Slams der Saison in dem Begriff bündelte. Die meisten Tennisprofis reisen ja aus dem Winter an, nach einer Pause voller Tatendrang, in Vorfreude auf Sonne und nette Melburnians. Zu jener Zeit sahen die Tage vor Turnierstart so aus, dass namhafte Profis australische Tiere hochhielten, die nicht bei drei im Busch waren. Seitdem kennt man Geschöpfe wie das Quokka, den Star unter all den Kängurus, Koalas, Wombats. Dann kam die Pandemie, und war schon vergangenes Jahr vieles nicht mehr wie früher, so hat dieses Jahr nun eine neue Epoche begonnen. "Vergiss den Happy Slam", titelte jüngst der britische Telegraph, "diese Australian Open könnte das toxischste Turnier jemals werden." Wäre das Wetter derzeit nicht so wunderbar im Südosten des Kontinents, müsste man sagen: Es herrscht dicke Luft wie bei den verheerenden Waldbränden vor zwei Jahren.
Novak Djokovic, 34, ist der Mann, um den alles kreist, und abgesehen davon, dass auch am Donnerstag nicht klar wurde, ob der Weltranglisten-Erste sein Visum behalten darf oder nicht, ist verblüffend, wie ein Mensch Politik, Medien, Öffentlichkeit, Fans derart verrückt machen kann. Der Ursprung des aufgeführten Dramas ist beim mächtigen Tiley ausfindig zu machen, "players first" ist sein Motto. Für sie tut er alles. Das Schlupfloch, als Ungeimpfter ins Land zu können, obwohl Impfpflicht gilt, hat Tiley - das darf man annehmen - Djokovic gern übermittelt. Auf wunderliche Weise wurde Djokovic tatsächlich mit Corona infiziert und glaubte, die Auflage - eine Infektion in den vergangenen sechs Monaten - zu erfüllen und somit einreisen zu können. Der Rest ist bekannt. Djokovic verlor nach der Landung das Visum, erhielt es per Richterverfügung zurück und ist nun auf der Anlage, um zu trainieren.
Premierminister Morrison bleibt dabei: Ausländer müssten geimpft sein oder belegen, dass sie sich nicht impfen lassen können
Wie sehr gerade Showdown-Atmosphäre herrscht, wurde am Donnerstag, dem achten Tag dieses Falles deutlich. Für 15 Uhr Ortszeit war die Auslosung terminiert, als es losgehen sollte, wurde sie verschoben. Es war die Nachricht aufgetaucht, Premierminister Scott Morrison gebe um 15.45 Uhr eine Pressekonferenz. Würde er den Daumen heben oder senken über Djokovics Verbleib? Offenbar wollte Tiley den obersten politischen Entscheider abwarten.
Aber Morrison äußerte nichts Konkretes, wie er überhaupt den Eindruck erweckt, als wolle er nicht der sein, der der Weltöffentlichkeit das mit Spannung erwartete Urteil übermittelt. Er verwies auf Einwanderungsminister Alex Hawke, 44. Der müsse das regeln und habe die Macht dazu. Nur in einem Punkt blieb er konkret: Ausländer, die einreisen, müssten "zeigen, dass sie doppelt geimpft" sind, oder belegen, dass sie sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können - "diese Politik hat sich nicht geändert". Das spräche klar dafür, dass Djokovic Australien verlassen müsste.
Für die Auslosung war die Verzögerung ohne Folgen, sie fand ab 18.15 Uhr statt. Mit Djokovic im Tableau. Der Serbe soll in der ersten Runde gegen seinen Landsmann Miomir Kecmanonic spielen, Alexander Zverev trifft auf Daniel Altmaier (Kempen), Angelique Kerber auf Kaia Kanepi (Estland).
Djokovic steht massiv in der Kritik, weil inzwischen bekannt ist, dass er sich einiges zuschulden hat kommen lassen. Er hatte sich nach seiner Infektion nicht isoliert, Kinder getroffen, einem Reporter, wissend, dass er positiv ist, ein Interview gegeben, nicht die serbische Auflage befolgt, sich 14 Tage in Quarantäne zu begeben, im australischen Reiseformular fälschlicherweise angegeben, vor der Abreise nicht gereist zu sein. Er hatte zwischenzeitlich in Marbella trainiert. Ein Statement bei Instagram am Mittwoch, in dem Djokovic im Grunde nur lamentierte, verschlimmbesserte seine Lage.
Auch in Spielerkreisen ist zunehmend Groll zu vernehmen. Nachdem der Ungar Marton Fucsovics ("denke nicht, dass er das Recht hätte, hier zu sein") und der Portugiese João Sousa ("Es ist ein bisschen egoistisch von ihm, als einziger ungeimpfter Spieler hierherzukommen") ihre Verärgerung ausdrückten, legte der Weltranglisten-Vierte Stefanos Tsitsipas nach. "Wir haben uns alle an die Regeln gehalten, um nach Australien zu kommen und am Turnier teilzunehmen. Und wir haben uns dabei sehr diszipliniert verhalten", sagte der Grieche dem indischen Sender WION: "Eine sehr kleine Minderheit hat sich entschieden, ihren eigenen Weg zu gehen. Das lässt die Mehrheit irgendwie wie Idioten aussehen." Djokovic spiele "nach seinen eigenen Regeln".
Einwanderungsminister Alex Hawke hat offenbar keine Eile
Für Djokovic dürfte solche Kritik derzeit das geringste Problem sein. Für ihn, aber auch die Regierung läuft ein Wettrennen gegen die Zeit. Djokovic will um jeden Preis die Australian Open spielen. Er könnte sich mit dem 21. Grand-Slam-Titel von Roger Federer und Rafael Nadal absetzen. Hawke, so scheint es, hat keine Eile. Frühestens an diesem Freitag, berichtete die Zeitung The Age, entscheide er. Dass das australische Blatt aus dem Djokovic-Lager die Information erhielt, Djokovic wolle bei einem zweiten Visum-Veto sofort dagegen vorgehen (um bis Sonntag dann das Gerichtsverfahren durchzuziehen), darf man als Drohkulisse auffassen - und es passt zum Bild, dass Djokovic in dieser Affäre abgibt. Er sieht sich mutmaßlich als Opfer. Dabei ist sogar auch die Echtheit seines Positivtests umstritten. So vieles wirkt faul.
Djokovic, der wohl am Dienstag, möglicherweise am Abend, sein Erstrundenmatch bestreitet, könnte von Hawke auch nach Turnierstart aus dem Event und Land katapultiert werden. Würde er vor dem Turnierstart am Montag aussteigen (müssen), würde der russische Weltranglisten-Fünfte Andrej Rublew an seine Stelle rücken. Ab dem Moment, an dem gespielt wird, würde ihn ein Lucky Loser aus der Qualifikation ersetzen. Dass sich die Corona-Lage verschlechtert hat, verdeutlichte ein Beschluss des Bundesstaates Victoria am Donnerstag. Die Zuschauerzahl der Australian Open wird auf 50 Prozent der Kapazität begrenzt.