Nationalmannschaft:Der Super-Minister mit dem Rundumblick

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Sami Khedira während einer Pressekonferenz im Trainingslager. (Foto: AFP)
  • Sami Khedira war in den letzten Jahren vor Großturnieren meistens angeschlagen, jetzt startet er vollkommen fit in die Vorbereitungen.
  • Aufgrund der Fragezeichen hinter Neuer und Boateng stellt er eine wichtige Stütze im defensiven Verband dar.
  • Seine körperliche Verfassung mache ihn noch wertvoller für die Nationalelf, so Khedira.

Von Philipp Selldorf, Eppan

Ein Mann, der im immer gleichen Tempo geradeaus läuft, am Ende des Weges umkehrt, um dann im immer gleichen Tempo wieder geradeaus zu laufen - das ist kein Programm, das die Zuschauer amüsiert. Zwar wurde der Rekonvaleszent Jérôme Boateng auf seinen monotonen Laufwegen stets von solidarischem Beifall begleitet, die meisten Zuschauer beim ausnahmsweise öffentlichen Training der Nationalmannschaft richteten ihre Blicke aber lieber auf das Kleinfeld-Spiel in wechselnden Besetzungen, die der Bundestrainer wie ein Orchester-Leiter dirigierte. Mats Hummels und die übrigen dank Sonderurlaub nachträglich angereisten Bayern-Spieler mussten sich derweil im Fitnesszelt verdingen und anschließend Konditionsübungen absolvieren (zum Verdruss von Thomas Müller, der sehnsüchtig auf das Kleinfeldspiel schaute).

Mancher ständige Begleiter staunte, dass außer Boateng nicht auch Sami Khedira die Linie entlanglief. Auch beim DFB hatte man sich ja fast daran gewöhnt, dass der 31 Jahre alte schwäbisch-deutsch-tunesische Nationalspieler erst mal die Reha-Abteilung aufzusuchen pflegte, wenn er ins Trainingscamp startete. Vor der WM 2014 kam er zwar mit der Empfehlung des just gewonnenen Champions-League-Titels ins Teamhotel, doch das Gros der Saison hatte er wegen eines Kreuzbandrisses verpasst und bedurfte daher bis weit ins Turnier hinein besonderer Obhut. Vor der EM 2016 umfasste die Krankenakte seiner Saison unter anderem Verletzungen am Oberschenkel, den Adduktoren und der Wade. Pünktlich zum Schluss der Spielzeit erlitt er einen Muskelriss.

Khedira ist in einem ganz anderem Zustand als 2014

Am Wochenende jedoch lief auf dem Rasen ein Sami Khedira umher, der den Beobachtern doppelt unbeschwert vorkam. Einerseits weil er keine medizinische Sonderaufsicht benötigte, andererseits weil ihn eine nicht typische Leichtigkeit kennzeichnete. Schon als junger Spieler war Khedira ein Fußballer, der durch seine Statur eine gewisse Schwere auf den Rasen brachte. Dieses scheinbar ursprünglichen Lastgewichts hat er sich zuletzt offensichtlich entledigt, in den vergangenen zwei Jahren arbeitete er sich bei Juventus Turin weitgehend verletzungsfrei durch das Mammutprogramm des italienischen Spitzenklubs. Er sei "in einem ganz anderen Zustand als 2014" und könne sich dadurch "ganz anders einbringen", bestätigte Khedira. Seine körperliche Verfassung, so glaubt er, mache ihn für die Nationalelf wertvoller (wobei er sich immer schon für sehr wertvoll hielt): "Ich kann den Rundumblick haben, kann Mitspieler besser führen und andere Aufgaben intensiver übernehmen."

Diese vorteilhafte Selbstauskunft gleicht der Bewerbung eines Politikers, der nicht nur Minister, sondern Super-Minister werden möchte. Tatsächlich ist Khediras Bedeutung und Verantwortung für die Stabilität im Gemeinwesen erheblich gestiegen, der Bundestrainer Jogi Löw nannte ihn bereits "unentbehrlich" und erhob ihn zum Erfolgsgaranten. Zumal in einem womöglich nicht ganz so stabilen Umfeld: Auf dem Papier darf Deutschland zwar auf dasselbe hochwertige Personal zum Schutz des eigenen Strafraums zählen wie vor vier Jahren. Doch bei näherem Hinsehen sind ein paar Bedenken keine Ketzerei.

Der Torwart Manuel Neuer macht im Training einen so gesunden und munteren Eindruck, wie sich das alle gewünscht hatten - und trotzdem weiß niemand, ob er nach acht Monaten Spielpause den Ernstfallbedingungen eines WM-Turniers standhält. Und während Mats Hummels am Ende der langen Bayern-Saison immer langsamer zu werden schien, was ihn ab und zu ziemlich alt aussehen ließ (etwa beim Laufduell mit Ante Rebic während des Pokalfinales), muss sich Boateng nach seiner Muskelverletzung erst wieder in die Lage bringen, mehr als Geradeausläufe zu bestehen.

Khedira ist nicht der einzige defensive Mittelfeldspieler im deutschen Kader, sein spielerisches Profil prädestiniert ihn aber zum Sicherheitschef vor der Abwehrreihe. Nicht unbedingt gegen Vorrundengegner wie Südkorea und Schweden, aber gewiss gegen Brasilien, Belgien oder Frankreich. Gegen solche Mutmaßungen hat Khedira nichts einzuwenden: Die Anwesenheit des acht Jahre jüngeren Konkurrenten Leon Goretzka, der ebenfalls fürs Hinterland des Mittelfelds geeignet wäre, begrüßt Khedira als "erfrischend". Grundsätzlich stellt er jedoch fest: "Ältere Spieler haben die Erfahrung. Man weiß, worauf es ankommt."

All die Jahre hat es Khedira, der ein stolzer Mensch ist, aushalten müssen, dass sich die öffentliche Anerkennung für sein Spiel in Grenzen hielt. Das war bei Real Madrid so und auch in der Nationalelf, in Turin genießt er nun mehr Wertschätzung. In Italien werden taktische Fachkräfte wie Khedira traditionell hoch gehandelt, und ältere Spieler werden weniger skeptisch gesehen als in Deutschland, wo man immer den Umbruch anmahnt, sobald Fußballer den 30. Geburtstag feiern. Auch Löw hat jetzt nicht ausgeschlossen, dass nach der WM einige Spieler aus seiner "goldenen Generation" ausscheiden könnten. Sami Khedira aber fühlt sich da nicht angesprochen, er sehe "noch keine Grenze: Ein Stück weit über 30, ein Stück weit unter 30 - das ist immer noch jung."

© SZ vom 28.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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