Monica Seles:Die junge Frau, die auf dem Platz zur Bestie wurde

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Erster Grand-Slam-Titel: Monica Seles im Juni 1990 mit ihren Eltern Esther and Karoli. (Foto: AP)

Vor 30 Jahren gewann Monica Seles als 16-Jährige ihre erste Grand-Slam-Trophäe. Sie war auf dem Weg, eine der Größten im Tennis zu werden - ein heimtückisches Attentat veränderte ihr Leben.

Von Milan Pavlovic

Stärke, Halt, Selbstbewusstsein. Das Bild, mit dem Monica Seles 2009 ihre Lebensgeschichte verkaufen wollte, symbolisiert all das, was ihr irgendwann im Leben abhanden gekommen war. Der Titel ihrer Autobiographie tat ein Übriges: "Getting a Grip - On my game, my body, my mind ... my self", das verrät mit schonungsloser Offenheit, womit die langjährige Nummer eins der Tenniswelt zu kämpfen hatte. Wobei die Anstrengungen, ihr Spiel in den Griff zu bekommen, nicht einmal annähernd so hart waren wie der Rest. Aber der Reihe nach.

Viele Sportler und Sportlerinnen haben zwei Gesichter: das auf dem Platz und jenes jenseits davon. Bei kaum jemandem war der Gegensatz so groß wie bei der jungen Monica Seles. Als sie erstmals ins Bewusstsein des breiten Publikums trat, war sie ein fröhliches, spontanes, überschäumendes Mädchen, 15 Jahre jung, giggelnd und mit einer Stimme, die sich vor Neugier und Aufregung überschlug. Sie brachte Blumen mit auf den Platz, und auch wenn das eine Idee ihrer Eltern war, passte das gut zu ihrem Auftritt. Dann aber wurden die Bälle ausgepackt, und dieser zierliche blonde Teenager mit dem hart geflochtenen Zopf machte eine frappierende Metamorphose durch. Monica Seles verwandelte sich vor unseren Augen in eine nimmersatte Bestie.

Es war nicht schön, was Seles vorführte, aber es war einzigartig. Von ihrem Vater Karolj neben und auf dem Platz großgezogen, schlug Seles Vor- und Rückhand beidhändig. Aber was heißt hier "schlug"? Sie drosch atavistisch auf die Bälle ein, als hätte sie eine Keule in der Hand und müsste in der Steinzeit jagen oder ihren Stamm verteidigen. Hinzu kam als penetrante Tonkulisse ein Stöhnen und Grunzen, das greller an den Nerven sägte als der Bohrer eines Zahnarztes. Man konnte gar nicht glauben, dass solche Laute aus einem Mädchen kommen konnten, mancher TV-Zuschauer drehte verschämt den Ton runter, um bei den Nachbarn nicht in Verruf zu geraten. Aber wie sollten erst die Gegnerinnen damit umgehen?

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Gemeine Beobachter - und es gab auf der Tour genug Beobachter und Widersacher, die Seles und ihre fröhliche Art lästig fanden, ähnlich wie Jahre später bei ihrem Landsmann Novak Djokovic - tun so, als wäre das Grunzen das Kernvermächtnis der in Novi Sad geborenen Serbin, die später die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm: Ihretwegen wurde eine Liste angelegt, auf der ihre Lautstärke (93 Dezibel) mit der von Presslufthammern (100) und Düsenjets (110) verglichen wurden. Dass sie später von Maria Scharapowa (101) übertönt und von der berüchtigten Portugiesin Michelle Larcher de Brito (109) in den Schatten gestöhnt wurde, hieß nicht, dass man Seles vergeben hätte. Immer, wenn Spielerinnen aufkamen, die schrien - ob nun Serena Williams oder Viktoria Asarenka -, wurde rasch die Verbindung zu Seles hergestellt, als hätte sie ein Copyright auf diesen Charakter des Lärms.

Seles hat das Frauentennis taktisch revolutioniert

In Wahrheit hat Monica Seles das Frauentennis taktisch revolutioniert: Sie hat als erste Spielerin konstant Serien von Gewinnschlägen von der Grundlinie geschlagen - und zwar von beiden Seiten, manchmal quasi aus dem Nichts. Steffi Graf stellte sich ihre Gegnerinnen zurecht, bis sie ihre Vorhand einsetzen konnte, Martina Navratilova attackierte das Netz, so oft es ging, und Arantxa Sánchez Vicario zermürbte ihre Kontrahentinnen, indem sie quasi jedes Bällchen aus dem Sand buddelte, bevor es zum zweiten Mal aufgetitscht war.

Seles aber trachtete (wie später die Williams-Schwestern) danach, jeden Punkt zu dominieren und versuchte stets, von oben auf die Filzkugeln einzutrümmern, um das größtmögliche Tempo zu entwickeln. Weil die Linkshänderin von beiden Seiten beidhändig spielte, ertappte man sich mitunter bei der Frage, ob sie gerade eine Vor- oder Rückhand gespielt hatte. Die Beidhändigkeit erlaubte es ihr zudem, Winkel zu kreieren, die noch schmerzhafter waren als ihre Kampfschreie. Und die Unermüdlichkeit ermöglichte es ihr, die Reichweitennachteile der Beidhänderin zu kompensieren. Mit dieser Technik waren nur sehr wenige Athleten erfolgreich (Marion Bartoli gewann 2013 Wimbledon), aber Seles erreichte nie erwartete Dimensionen.

Denn nach ihrem fröhlichen Auftakt machte sie bald ernst. Anfangs hatte man noch das Gefühl, dass Seles manche Niederlagen nicht so schwernahm - anders als etwa Steffi Graf, die auch in ihren ersten Jahren jede Niederlage als Affront sah (und deshalb manchmal gar nicht zu würdigen wusste, an was für Epen sie beteiligt war). Seles kicherte viel und lernte: sehr schnell und sehr viel. Sie brachte Graf 1989 im Halbfinale der French Open schwer in Verlegenheit und nahm ihre Niederlagen im selben Jahr in Wimbledon (wieder gegen Graf, diesmal glatt) und bei den US Open (ebenfalls im Achtelfinale, diesmal gegen Chris Evert) als Lehrstunden. Im Jahr darauf drückte sie dann aufs Tempo, mit fünf Turniersiegen im Frühling - und einer souveränen Vorstellung beim 7:6 (6), 6:4 im Finale der French Open gegen Steffi Graf, die am 10. Juni 1990 einfach kein Mittel fand, Seles zu stoppen. Als damals 16-Jährige ist sie bis heute die jüngste Paris-Siegerin.

Team Seles unterliefen in den Monaten danach ein paar kuriose Anfängerfehler, die schon nicht mehr zu ihrem Status passten; bei den US Open 1990 zum Beispiel schied sie bereits in der dritten Runde aus, weil sie keine Ahnung hatte, wer ihre Gegnerin war (die Italienerin Linda Ferrando), wie sie spielte (frech attackierend) und dass sie eine Linkshänderin war. Aber auch dieses Erlebnis sah Seles eher positiv, und 1991 startete sie eine Serie, die man vorher nur von Steffi Graf gekannt hatte: Seles gewann sieben der nächsten acht Grand-Slam-Turniere, an denen sie teilnahm und löste Graf an der Spitze der Weltrangliste ab.

Den Grand Slam, den Seles 1992 hätte erzielen können (sie triumphierte in Australien, Paris und New York), verlor sie in Wimbledon vermutlich auch wegen eines Nervenkriegs: Die englischen Zuschauer und Berichterstatter schossen sich derart auf ihr Stöhnen ein, dass nun sogar die Gegnerinnen aufmuckten. Im Viertelfinale beschwerte sich die Französin Nathalie Tauziat beim Schiedsrichter, Seles verschaffe sich einen unlauteren Vorteil, weil man als Gegnerin vor lauter Schreien nicht mehr hören könne, wie und wann der Ball geschlagen worden sei. Im Halbfinale argumentierte Martina Navratilova ähnlich. Der englische Boulevard bedankte sich für ein Skandalthema.

Im Finale gegen Steffi Graf verzichtete Seles auf ihr Stöhnen, aber genauso hätte man ihr verbieten können, die Grundschläge beidhändig auszuführen. Ihr fehlte der Antrieb, die Wucht, das Kriegerische - all das, was sie so unverwechselbar machte und ihr ein paar Wochen vorher geholfen hatte, im Finale von Paris gegen Graf ein grandioses 10:8 im dritten Satz zu erkämpfen. Im Januar 1993 komplettierte Seles ihren Hattrick Down Under, wieder war Graf eine würdige Gegnerin - aber es reichte wieder nicht: Seles hatte nun drei der vergangenen vier großen Finals für sich entschieden, und sie rückte der deutschen Ausnahmespielerin bei Grand Slams immer näher, 8:11 stand es in diesem Duell, das versprach, das größte auf der Frauentour zu werden seit Navratilova vs. Evert.

Doch all das kam zu einem schauderhaften Ende im April 1993.

Am Hamburger Rothenbaum schlich ein deutscher Fanatiker mit einem ungesunden Faible für Steffi Graf während eines Seitenwechsels von Seles' Halbfinale gegen Magdalena Maleeva auf den Platz und stach der Favoritin in den Rücken. Günter Parche wurde überwältigt, Seles in ein Krankenhaus eingeliefert. Der Schock schnitt tiefer als das Messer. Graf besuchte Seles kurz, sie weinten und schwiegen viel, was sollten sie auch groß sagen?

Womöglich gab es nie einen heimtückischeren Anschlag auf eine Athletin als diesen. Es war ja nicht bloß eine körperliche Attacke. Sondern ein Einbruch in den Bereich, der vorher nur Seles allein gehört hatte, wo sie sich stets sicher fühlte - ihr öffentliches Zuhause. Es gab tatsächlich Menschen, die nörgelten, damit müsse man als Erwachsener doch klarkommen. Aber wie sollte die 19-Jährige jemals wieder unbeschwert einen Platz betreten, wenn schon die Veteranin Martina Navratilova über den veränderten Umgang mit den Fans sagte: "Bislang war es so, dass man Menschen auf sich zueilen sah und dachte: ,Die wollen dein Autogramm' - aber nun fragst du dich: Tragen die einen Stift mit sich oder ein Messer?"

Seles' Wunde verheilte relativ bald, aber ihre Seele kam nicht zur Ruhe. Die Signale aus der Branche waren auch keine Hilfe. Der Verletzten wurde nur unter Murren zugestanden, bei ihrer Rückkehr als Co-Nr. 1 geführt zu werden. Vater Karolj Seles ärgerte sich, weil er fand, Graf hätte aus Fairness pausieren sollen statt die nächsten vier Grand-Slam-Turniere zu gewinnen - der Attentäter habe auf diese Weise ja genau das erreicht, was er bezweckt hatte. Dass Parche nicht ins Gefängnis gesperrt wurde, weil ihm wegen einer "hochabnormen Persönlichkeitsstruktur" eine "verminderte Steuerungsfähigkeit" attestiert wurde, verübelte Seles ganz Deutschland - und schwor, nie wieder in diesem Land anzutreten.

Ein bemerkenswertes Comeback

Zweieinhalb Jahre ließ Seles sich Zeit, bevor sie zurückkehrte. In Montréal gewann sie das Turnier im August 1995, als wäre sie nie weggewesen: ohne Satzverlust. Danach bei den US Open konnte man nicht übersehen, dass die 21-Jährige nicht nur das Haar schwarz trug und eine Bandage am linken Knie, sondern auch einige Pfund zu viel. Aber ansonsten war es ein bemerkenswertes Comeback. Mühelos gelangte sie ins Finale, wo zur Abrundung des Melodramas Steffi Graf auf sie wartete. Der epische erste Satz ging an Graf (8:6 im Tie-Break), doch Seles ließ nicht locker, glich durch ein 6:0 aus - erst dann ließen die Kräfte der Rückkehrerin nach, ein Break reichte Graf zum Sieg. Doch der schönste Moment gehörte der Verliererin, die bei 3:5 angesichts der Ovationen im Stadion nicht anders konnte als zu lachen - weil sie genau wegen solcher Emotionen zurückgekehrt war. Wenige Minuten später umarmten sich die beiden am Netz, vermutlich der herzlichste Augenblick ihrer Rivalität.

Steffi Graf und Monica Seles nach dem Finale der US Open 1995. (Foto: imago/Oliver Hardt)

Wenige Monate später gewann Seles in Abwesenheit der verletzten Steffi Graf die Australian Open 1996 (im Finale gegen Anke Huber). Sie war erst 22 Jahre alt - aber ein weiterer großer Pokal kam nicht mehr dazu, auch wenn sie noch Finals in New York (1996) und Paris (1998) erreichte. Doch sie konnte einfach nicht konstant fit und in Form bleiben, andere Dinge als Tennis arbeiteten in ihr, und die Krebskrankheit ihres Vaters, dem sie sehr nahe stand, und sein Tod 1998 nagten schwer an ihr. In ihrer Autobiographie sprach sie all das an - auch die Fresssucht, die das krankhafte Ventil bei der Bewältigung ihrer persönlichen Rückschläge wurde. "Essen wurde zum einzigen Ausweg, meine Dämonen ruhigzustellen", schrieb sie.

Sport wurde dadurch zur Nebensache, oft auch zum Hindernis. "Ich merkte, wie mich die Menschen anstarrten", schilderte Seles, und diesen Teufelskreis konnte sie erst nach dem Ende ihrer Karriere durchbrechen. Ihr letztes offizielles Match war eine derbe Niederlage bei den French Open 2003. Auf der Anlage, die sie so liebte und auf der sie nie vor dem Viertelfinale ausgeschieden war, verlor sie in der ersten Runde glatt gegen Nadja Petrowa, den zweiten Satz mit 0:6. Seles versuchte später, noch einmal zurückzukehren, aber sie wusste selbst, dass sie nicht fit genug für die Tour war. Irgendwann vergaßen die Beobachter, dass sie noch gar nicht zurückgetreten war. Im jährlichen Handbuch der Tennisprofis stand sie in der Kategorie "Ehemalige Nr. 1", lange bevor sie 2008 wirklich ihren Abschied verkündete, mit 34 Jahren.

Später wurde sie Sprecherin für ein Mittel gegen Fresssucht. Sie traf Tom Golisano, einen Milliardär, der 32 Jahre älter ist als sie, Mitte der Zehnerjahre heirateten die beiden. Seles macht sich so rar, dass fake news sich häuften. Wer heute nach ihr fahndet, kann im Internet über die ernst gemeinte Frage stolpern: "Wann ist Monica Seles gestorben?" Zum Glück noch nicht. Obwohl: ein Teil von ihr am 30. April 1993.

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