"Mitarbeiter des Tages":Goretzkas Großonkel

Lesezeit: 2 min

Gern geladener Talkshow-Gast: Ewald Lienen, 67, hier vor zwei Jahren in der Sendung "3 nach 9". (Foto: Ewert/Nordphoto/Imago)

Ein Experte unter Weisen: Ewald Lienen echauffiert sich immer noch so schön wie früher über den Fußball. Vor allem über den Bundestrainer.

Von Johannes Schnitzler

Dass beim ZDF die Uhren langsamer ticken: geschenkt. Dass aber in München, dieser pulsierenden Metropole... einerlei. Jedenfalls: Die Halbzeitpause im EM-Gruppenspiel zwischen Deutschland und Ungarn in München muss länger gedauert haben als üblich. Zumindest, wenn Ewald Lienen wirklich alles losgeworden ist, was er am Mittwoch in der Halbzeitpause angeblich gesagt haben will, wie er hinterher in der ZDF-Sendung von Markus Lanz berichtete.

Zum Beispiel, dass der Stürmer Leroy Sané als verkappter Rechtsverteidiger, nun ja, artfremd besetzt ist. "Ich habe in der Halbzeit gesagt: Wenn wir da irgendetwas erreichen wollen, dann musst du auf Viererkette umstellen", sagte Lienen. "Dann muss Sané auf Rechtsaußen, dann muss Kimmich ins Mittelfeld, dann musst du den linken Flügel auch anders besetzen, dass du mit einem 4-4-2 oder einem 4-3-3 spielst, irgendwie so was." Und was geschah? Sané spielte rechts vorne, Ginter rechter Verteidiger und Kimmich im Mittelfeld. "Da habe ich mich gefreut." Allerdings, ach: "Das war nur im Ballbesitz. Wenn der Ball weg war, ist Ginter wieder reingekommen und Sané ist die Linie rauf und runter gelaufen, bis ihm die Zunge hier hing und anschließend hat er keine Kraft mehr gehabt." So sprach Lienen bei Lanz, und der Gastgeber und seine weiteren Gäste - die Sportmoderatorin Gaby Papenburg, der Moderator und ehemalige AS-Roma-Nachwuchsspieler Giovanni Zarrella und der bemerkenswert knöchelfreie Fußballweise Marcel Reif - nickten andächtig.

Lienen, 67, 333 Spiele in der Bundesliga, ist ein Experte. Nach der Profikarriere war er Trainer, zuletzt beim FC St. Pauli, den er heute als "Marken- und Wertebotschafter" vertritt. Als Spieler mit langem Haar und Che-Guevara-Bärtchen galt er im Geldbetrieb Profifußball als linker Nonkonformist, umweltbewegt, sozial engagiert, ein Kicker mit Grips und Botschaft. Ein früher Leon Goretzka, dessen Großonkel im Geist er sein könnte. Schon damals war Lienen ein gern geladener Talkshowgast, wenn auch anstrengend: Wo Lienen war, war keine Langeweile.

Heute, mit Hornbrille und Seitenscheitel, wirkt er wie ein pensionierter Studienrat, der seine Schüler mit Tacitus und Thukydides (diese Schachtelsätze!) triezen konnte. Zur EM-Zeit ist er häufiger bei Lanz zu sehen. Und echauffiert sich jedes Mal, vor allem über den "Übungsleiter", wie er den scheidenden Bundestrainer nennt. Und wenn er sich dann, wie am Mittwoch, in einem seiner eigenen Sätze verzettelt, dann winkt er ab wie Piet Klocke, sagt, "Ach, egal", weil er weiß, dass Löw bald weg sein wird und die anderen ihm eh nicht folgen können.

Von seiner Leidenschaft für den Fußball hat Lienen aber nichts eingebüßt. Wie man gegen eine so tief stehende Fünferkette wie die ungarische seine eigenen Angreifer so hoch aufstellen könne, dass diese keine Möglichkeit mehr zur dynamischen Entfaltung hätten - er verstehe es nicht. "Aber das ist Sache des Übungsleiters. Habe ich in der Halbzeit gesagt." Fast ein bisschen schade, dass der DFB schon einen Nachfolger für Löw gefunden hat.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: