Missbrauch im US-Turnen:Es wurden Kinderseelen zerstört

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Simone Biles bei den Olympischen Spielen in Rio. (Foto: REUTERS)

Der Skandal um sexuellen Missbrauch im US-Turnen offenbart, was im Sport an vielen Stellen im Argen liegt. Es geht vor allem ums Geschäft - und nicht um das Wohl der Athleten.

Kommentar von Joachim Mölter

Vor acht Monaten ist Larry Nassar in den USA zu seiner letzten Haftstrafe verurteilt worden: Mindestens vier Jahrzehnte muss der heute 55-Jährige noch im Gefängnis bleiben, wenn er erst mal die Strafen abgesessen hat, die er in zwei vorangegangenen Prozessen bereits auferlegt bekam - das sind wenigstens 100 Jahre. Das amerikanische Strafrecht gibt solche Zeiträume her.

Nassar hatte als Arzt des amerikanischen Turnverbandes über Jahre hinweg Hunderte von jungen Sportlerinnen sexuell missbraucht, meist unter Vortäuschung einer medizinisch notwendigen Behandlung, in seinem Haus, in Trainingszentren, auf Wettkampfreisen. Was Nassar verbrochen hat, geht über das hinaus, was die #MeToo-Kampagne derzeit nicht nur in den USA beklagt: Mit seinem Treiben hat er Kinderseelen zerstört.

Zerbrochene Seelen sind kaum jemals wieder in Ordnung zu bringen. Aber nicht einmal juristisch ist der Fall mit dem letzten Urteil erledigt: Der Turnverband USA Gymnastics, oder kurz USAG, hat in dieser Woche so massive Nachbeben erlebt, dass es mittlerweile zweifelhaft ist, ob der Schaden, den er hat, überhaupt noch zu reparieren ist - oder ob man nicht besser den ganzen Trümmerhaufen einfach beseitigt und ein neues Konstrukt aufbaut, mit unbelasteten Mitarbeitern.

Am Dienstag ist jedenfalls Mary Bono als USAG-Präsidentin zurückgetreten, sie hatte das Amt nur vier Tage vorher interimsweise übernommen; ihre im Januar gewählte Vorgängerin Kerry Perry hatte es Anfang September niedergelegt, auf massiven öffentlichen Druck hin. Am Mittwoch wurde Perrys Vorgänger verhaftet, Steve Penny; er hatte seinen Posten im Zuge des Nassar-Skandals im Frühjahr 2017 räumen müssen. Ihm wird von einem Staatsanwalt vorgeworfen, Beweismittel vernichtet zu haben, seinen Nachfolgerinnen von etlichen betroffenen Athletinnen, dass sie zumindest nichts gegen Nassars Treiben unternommen haben.

Eine Selbstreingung der Amtsträger scheint unmöglich

Der Skandal um sexuellen Missbrauch im US-Turnen offenbart vieles von dem, was im Sport generell im Argen liegt. Da ist zum einen die Person von Steve Penny, der als Marketing-Experte an die Spitze eines Sportverbandes geholt wurde: Der Fokus der Funktionäre liegt also offensichtlich auf dem Image, auf der Vermarktbarkeit, auf dem Geschäft - nicht auf dem Wohl von Athleten. Da ist des weiteren die Strategie, mit der die Funktionäre unangenehme Fälle bearbeiten: sie vertuschen, verdrängen, verzögern. Schließlich belegt der Skandal ein weiteres Mal, dass den Amtsträgern des Sports eine Selbstreinigung allem Anschein nach unmöglich ist. Der Impuls zur öffentlichen Aufklärung von Nassars Treiben kam ja aus den Reihen älterer Athletinnen - lange nachdem sie intern schon darauf hingewiesen hatten und nichts passiert war. Und wenn nicht staatliche Ermittler eingreifen, würden die Sportverbände sogar die schlimmsten Übeltäter laufen lassen, solange Geld und Medaillen stimmen.

© SZ vom 19.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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