Skandal im US-Turnen:Die Ranch der Angst

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Aufgereiht wie Orgelpfeifen: junge Turnerinnen beim Drill auf der Ranch von Bela Karolyi (ganz links) und seiner Ehefrau Martha (vorne, mit dem Rücken zur Kamera). (Foto: Bob Levey)
  • Im Missbrauchsskandal im US-Turnen wurde nun auch gegen das Trainerpaar Martha und Bela Karolyi Klage eingereicht.
  • Die beiden sollen auf ihrer Ranch durch Isolation und Angst ein Klima geschaffen haben, das die Übergriffe begünstigte.
  • Es steht außerdem die Frage im Raum, wie es möglich war, dass die Trainer alles von den Mädchen wussten und mitbekamen - den Missbrauch aber nicht.

Von Volker Kreisl

Diese Ranch sollte verkauft werden, aber daraus wird wohl nichts mehr. Die drei kastenförmigen Hallen auf dem zwei Morgen großen Waldgelände stehen jetzt verlassen da. Abgelegen war die Anlage schon immer, 110 Kilometer nördlich von Houston. Oder, wie es die Turnerin Mattie Larson empfand: "Vollständig isoliert."

Rund zwei Jahrzehnte befand sich dort das Zentrum des US-amerikanischen Frauenturnens, und weil die Amerikanerinnen in dieser Zeit die meisten Goldmedaillen bei allen Wettkämpfen holten, war es auch der Taktgeber des weltweiten Turnens. Auf der Karolyi-Ranch wurden Mädchen zu Siegerinnen geformt. Doch nach Olympia 2016 in Rio ist die Anlage des Trainer-Ehepaars Martha und Bela Karolyi in eine Art Sturm geraten. Keine Nationalturnerin kommt heute noch hierher.

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Dass der frühere Teamarzt Larry Nassar jahrelang Athletinnen missbrauchen konnte, liegt auch am amerikanischen Turnsystem des Verharmlosens von Schmerzen - und an Tatenlosigkeit.

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Nachdem sich im Larry-Nassar-Skandal im Herbst 2016 zunächst alles um den ehemaligen Teamarzt der US-Turnerinnen drehte, begann bald die Phase, in der man versuchte, das Ausmaß dieses mehr als tausendmaligen Missbrauchs zu begreifen. Mehr als 300 teils minderjährige Opfer sind es mittlerweile. Von September 2017 an outeten sich immer mehr hochkarätige Turnerinnen als Opfer, darunter die Rekordsiegerin Simone Biles, die vielleicht beste Turnerin, die es je gab. Nassar wurde im Januar zu mindestens 40 und maximal 170 Jahren Gefängnis verurteilt, aber die Betroffenen der Michigan State University, wo Nassar ebenfalls tätig war, und die amerikanische Turngemeinde kommen nicht so schnell zur Ruhe.

Denn der Prozess konnte weitere zentrale Fragen nicht beantworten. Kann es sein, dass jemand mehr als 20 Jahre lang seine Opfer mit der Hand penetrierte - und niemand bekam etwas mit? Und wenn das so war, welche möglicherweise unmenschlichen Bedingungen haben ihm dabei geholfen? Und wer ist für diese Bedingungen dann verantwortlich?

Die völlige Isolation war gewollt: Von der Ranch kam man nicht weg

Anfang Mai hat die ehemalige Athletin Sabrina Vega Klage gegen den Turnverband USA Gymnastics, das Olympiakomitee Usoc sowie Martha und Bela Karolyi eingereicht. Vega verlangt eine Million Dollar Schadenersatz: Auch sie sei Hunderte Male sexuell belästigt worden, die Karolyis hätten es versäumt, sie zu schützen. "Sie sollten dafür verantwortlich gemacht werden", findet Vega. In der vergangenen Woche forderten mehrere Turnerinnen in einer Pressekonferenz die texanischen Behörden auf, die Rolle der Karolyis eingehend zu untersuchen.

Wie viele Klagen sich noch anschließen, ist offen, aber es ist zu erwarten, dass über die Frage einer Schutzpflichtverletzung nun Beweis erhoben wird. Die Karolyis weisen die Vorwürfe zurück, man habe nichts ahnen können, sagte Martha Karolyi dem Fernsehsender NBC. Schließlich hätten nicht mal manche Eltern, die sogar bei Nassars Behandlungen mit im Raum saßen, etwas geahnt - "wie dann ich?"

Ganz so einfach ist es wohl nicht. Die Replik der Karolyis lenkt den Blick auf den ganzen Abgrund dieser Affäre. Selbst wenn von den leitenden Trainern keiner etwas mitbekommen hätte, so bleibt ja die entscheidende Frage, warum Nassar nicht auf dem naheliegenden Wege aufgeflogen war. Nämlich indem sich ein Opfer mal an einen Erwachsenen gewandt hätte, an Eltern, Trainer, an die Chefin. Doch der Erfolg der Karolyis basierte auf Angst, erklärte die ehemalige Turnerin Chari Knight-Nagel dem Sport-Blog Deadspin. Dazu braucht es unter anderem jene vollständige örtliche Isolation, von der Mattie Larson sagt: "Sie war gewollt." Von der Ranch kam man nicht weg, Elternbesuch war eher unerwünscht. Es braucht ferner autoritäre Trainer, dazu die Rückendeckung des Apparats.

Der Rumäne Bela Karolyi und seine Ehefrau Martha hatten sich bereits als Individualtrainer einen Namen gemacht, die beiden hatten in den Siebzigerjahren ihre Landsfrau Nadia Comăneci und, nach ihrer Flucht in die USA, in den Achtzigern die Amerikanerin Mary Lou Retton groß gemacht und zu Olympiasiegen geführt. Auch am Team-Olympiasieg der USA 1996 in Atlanta hatten sie Anteil gehabt. Die große Ära der Karolyis begann dann 1999, nachdem das US-Frauen-Team bei der WM gescheitert war und eine Lösung für die Spiele 2000 in Sydney hermusste. Der Verband berief Bela Karolyi zum Cheftrainer, 2001 übernahm Martha. Karolyi wurde mit Befugnissen ausgestattet, seine Ranch durfte er zum Mittelpunkt des US-Turnens aufbauen. Dort zog er die Turnerinnen in Camps zusammen, wo sie nun auch um die Gunst der Karolyis werben mussten, deren Urteil neben den Ergebnissen bei den Ausscheidungen (Trials) über einen Olympia-Startplatz entschied.

Bald holten die Turnerinnen von der Ranch den gewünschten Ertrag an Goldmedaillen, nur von den Methoden bekam die Öffentlichkeit nichts mit. Turnerin Jamie Dantzscher, die den Nassar-Skandal mit einer anonymen Aussage angestoßen hatte, berichtete dem Sender CNN, was dazu gehörte: "Das Schlagen und Kratzen von Minderjährigen und die Aufforderung an die Eltern, Minderjährige zu schlagen."

Es gab auch subtilere Komponenten, die das Selbstbewusstsein unterminierten. Die Talente steckten in einem permanenten Konkurrenzkampf. Die frühere Athletin Knight-Nagel, die 2000 beim Bewerten der Olympia-Starterinnen mithalf, beschreibt die angespannte Stimmung im Essenssaal. Dort hätten die Turnerinnen irgendwann darum gewetteifert, "wer am wenigsten aß, während die Trainer zuschauten". Leichtes Übergewicht, oder auch schon der Anschein von Disziplinlosigkeit, konnte ja schädlich sein. McKayla Maroney, Olympiasiegerin von 2012, sagt, niemand habe gewagt, sich satt zu essen, wenn der Trainerstab dabei war.

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Nachdem ihm ein paar Minuten allein mit Larry Nassar verwehrt werden, stürzt sich der Mann auf den früheren Mannschaftsarzt der US-Turnerinnen. Die Richterin sieht von einer Strafe gegen den Vater ab.

Martha Karolyi tut ahnungslos - aber nach Aussagen der Opfer hat sie stets alles im Griff gehabt

Ähnlich verheerend war offenbar der Umgang mit Verletzungen. Im riskanten Turnsport zählen sie zur Normalität, auf der Ranch waren sie nicht erwünscht. Also versuchte man sich durchzumogeln. "Niemand", erklärt Dantzscher, "wollte zugeben, dass er verletzt war." Schnell konnte man ja draußen sein, wie das Beispiel von Mattie Larsson zeigte. Die war 2010 bei der Bodenübung gestürzt, hatte damit das WM-Gold ihres Teams verpatzt und kam nie wieder zum Einsatz.

In dieser Stimmung, in dieser Angst, etwas falsch zu machen, und mit wenig Kontakt zu Eltern oder Freunden, brauchte es ein "helles Licht", wie Dantzscher es ausdrückt, einen Kumpel, dem man vertrauen wollte. Und der kam dann auch.

Larry Nassar stellte sich zunächst bedingungslos auf die Seite der Turnerinnen. Er wies auf die Fehler des exzessiven Trainings hin, gab sich in Interviews als einfühlsamer Arzt und bestand auf Rehabilitation. Endlich war da jemand, der die Turnerinnen zu verstehen schien, und weil es immer noch heikel war, Verletzungen zuzugeben, behandelte Nassar diese eben auf ihren Zimmern. Und weil dieser Arzt doch ihr Kumpel war, und weil sie ohnehin kein Vertrauen in ihren eigenen Körper hatten, wussten viele nicht, ob der Ekel vor dieser Behandlung korrekt war oder wieder mal nur eine Überempfindlichkeit.

Die Karolyis waren angeblich völlig unwissend

All dies führt irgendwann zu der Erkenntnis, "keine Stimme zu haben, niemanden um Hilfe bitten zu können, weil diese nicht kommt", sagte nun der Mentaltrainer Robert Andrews, der auch lange Turner betreute.

In ihren Stellungnahmen zu den Vorwürfen ordnen sich die Karolyis unter den Opfern ein. "Nassar hat unser Lebenswerk zerstört", erklären sie, was unter den Opfern weitere Empörung auslöst. Zu klären wird sein, warum Martha Karolyi, die 15 Jahre lang Teamchefin war und laut einhelliger Meinung der Opfer alles stets im Griff hatte, ausgerechnet den Teamarzt kommen und gehen ließ, ohne sich darum zu kümmern. Auch bleibt fraglich, ob Martha Karolyi nicht schon im Sommer 2015 von Nassars Taten erfahren und ihn noch ein Jahr weiter geduldet hatte. Sie hat dies erst in einer Vernehmung zugegeben und später wieder abgestritten. Abgesehen von alldem muss geklärt werden, ob die angeblich vollkommen unwissenden Karolyis angesichts der Umstände, der ihnen anvertrauten Minderjährigen und aufgrund ihrer Stellung als allein verfügungsberechtigte Hausherren die Pflicht hatten, sich schlau zu machen.

Für die Olympiasiegerin Maroney ist das überhaupt keine Frage. Sie entgegnete den Karolyis im Sender NBC: "Ihr habt gewusst, was ich esse, ihr habt kontrolliert, was ich trage, kontrolliert, was ich sage. Wie konntet ihr nur davon nichts wissen?"

© SZ vom 19.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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