Missbrauchsskandal im US-Turnen:Langes Schweigen, kurzer Prozess

Gabrielle Douglas

Auch unter den Opfern: Gabrielle Douglas, Olympiasiegerin 2012 in London.

(Foto: dpa)
  • Den Missbrauchsskandal im US-Turnen aufzudecken, dauerte viele Jahre. Die Aufarbeitung vor Gericht geht nun zügig voran.
  • Nach umfassendem Geständnis des beschuldigten Arztes wird bald ein Urteil gefällt.

Von Volker Kreisl

Den Missbrauchsskandal im US-Turnen aufzudecken, dauerte viele Jahre, nun geht die Aufarbeitung zügig voran, zumindest die strafrechtliche. Larry Nassar, der ehemalige Teamarzt des US-Turnverbandes und Campus-Doktor an der Michigan State University (MSU), hat sich gleich zu Prozessbeginn in insgesamt zehn Fällen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen schuldig bekannt.

Nassars Geständnis ist Teil einer Vereinbarung mit der Staatsanwaltschaft Michigan. Der Arzt akzeptiert eine Freiheitsstrafe zwischen 25 Jahren und lebenslänglich, die voraussichtlich Anfang Januar gegen ihn verhängt wird. Damit dürfte sich der Prozess mitsamt weiterer Zeugenaussagen verkürzt haben. Zugleich werden weitere Anklagen in Michigan gegen ihn fallengelassen.

Unberührt davon bleibt der Strafprozess vor dem Bundesgericht wegen Besitzes von Kinderpornografie, in dem ein gesonderter Deal geschlossen wurde. Auch in diesem Fall hat Nassar gestanden, ihn erwarten 22 Jahre Gefängnis. Beide Freiheitsstrafen würde er gleichzeitig verbüßen. Zusätzlich sind noch rund 140 zivilrechtliche Klagen von ehemaligen Turnerinnen und Sportlerinnen gegen ihn anhängig.

Den Neubeginn habe der Verband "vermasselt", sagt ein Anwalt

Larissa Boyce, eines von Nassars Opfern, sagte dem Lansing State Journal, sie sei erleichtert über diese "letzte Bestätigung, dass mein Gefühl richtig war". Zugleich sei sie verärgert darüber, dass die Taten "so lange Zeit geschehen konnten".

Larry Nassar, 54, war mehr als 30 Jahre als Sportarzt tätig. Für das Nationalteam besuchte er regelmäßig Stützpunkte im ganzen Land und reiste mit zu Großveranstaltungen weltweit. Aussagen über erste Übergriffe gibt es von Olympiaturnerin Jamie Dantzscher. Sie berichtete über sexuellen Missbrauch bei den Spielen 2000 in Sydney. Der Großteil der Zivilklagen wird von Studentinnen der MSU erhoben. Die sexuellen Übergriffe rechtfertigte Nassar als medizinisch notwendige Behandlung. Die Opfer verdrängten und schwiegen, die wenigen informierten Betreuer, Eltern und Trainer beschwichtigten.

Greift die neue Präsidentin nun hart durch? Wohl nicht

Auch deshalb wird der Fall Nassar mit dessen Aburteilung nicht abgeschlossen sein und die gesellschaftliche Aufarbeitung noch länger dauern. Nassar konnte nur deshalb so lange unbehelligt bleiben, weil es beim Sportverband und an der Universität keine Stelle gab, an die sich Opfer vertraulich wenden konnten. Bei USA Gymnastics verfolgte man gemäß Recherchen des Indianapolis Star die Linie, dass Hinweise als Hörensagen ignoriert wurden, wenn sich nicht das Opfer oder dessen Eltern selbst meldeten. Umgekehrt wurden in privaten Trainingszentren aber auch Trainer trotz fragwürdiger Vergangenheit eingestellt. Berüchtigt ist der Fall Ray A., der seit 1993 in insgesamt elf Turn-Gyms angestellt war, obwohl er immer wieder wegen Übergriffen entlassen und auch zu Geldstrafen verurteilt wurde.

Opferverbände und Beobachter vermuten ein Mentalitätsproblem im Turnen. Dominique Moceanu, Olympiaturnerin von 1996, sagt: "Es braucht einen Paradigmenwechsel." Die neue Präsidentin von USA Gymnastics müsse nun durchgreifen. An diesem Freitag beginnt Kerry J. Perry ihre Amtszeit, Moceanu sagt, dies könne ein Neuanfang werden. Diejenigen, die Beschwerden abtaten, müssten entlassen werden, "zugleich darf man aber nicht vergessen, was passiert ist", sonst falle der Verband womöglich zurück in alte Zeiten.

Image und die Einnahmen des Verbandes im Blick

Doch nicht alle glauben daran, dass unter Perry tatsächlich ein fundamentaler Werte-Wechsel einsetzt. Ihrem Vorgänger Steve Penny wurde ja vorgeworfen, als Marketing-Fachmann vorwiegend das Image und die Einnahmen des Verbandes im Blick gehabt zu haben. Auch Perrys berufliche Stärken lagen bislang offenbar im Verkauf. Sie war Vizepräsidentin beim Sportvermarkter Learfield Communications.

John Manly, Klägeranwalt im Missbrauchsskandal, sagt deshalb, der Turnverband habe die Chance zu einem echten Neuanfang "vermasselt". Gerade die Geld- und Medaillenkultur habe ja den ganzen Skandal verursacht: "Man könnte meinen, wenn da hunderte Kinder sexuell belästigt wurden, dann sucht man sich doch einen, der nicht nur ein Renommee als Geschäftsmann hat, sondern auch eines darin, Athleten und Menschen zu beschützen."

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