Mikaela Shiffrin in Flachau:Tränen im Kunstschneegestöber

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Erfolgreich, aber mit Herz und Kopf ganz woanders: Mikaela Shiffrin wird für ihren fünften Sieg in Flachau geehrt. (Foto: Marco Trovati/AP)

Ihr Freund Aleksander Kilde im Krankenhaus, der Slalom eine Art Heimspiel für die härteste Rivalin: Mikaela Shiffrin schüttelt in Flachau bei ihrem 94. Weltcup-Sieg alle Widrigkeiten ab.

Von Johannes Knuth, Flachau

Für einen Moment hatte es den Anschein, als würde Mikaela Shiffrin doch noch ihren Halt verlieren. Die Siegertrophäe, die Helfer am Dienstagabend in den Zielraum schleppten und die in etwa so aussah, als wäre eine künstliche Intelligenz mit der Erschaffung eines skifahrenden Marsmenschen beauftragt worden, entlockte der Amerikanerin einen ratlosen Blick. Und als kurz darauf artifizielle Schneeschnipsel aus Kanonen emporschossen und auf die Siegerin des Slaloms von Flachau niederregneten, legte sich eine Flocke auf Shiffrins Zunge, was bei der 28-Jährigen hektisches Spucken auslöste. Aber bevor man sich sorgen musste, dass die Hauptdarstellerin des Abends an einem Papierschnipsel erstickt, hatte sie sich seiner entledigt.

Nicht, dass in den vergangenen Tagen zu wenig auf sie eingeprasselt wäre.

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Karin Harjo hatte ein Leben als Forscherin in Aussicht - knapp drei Jahrzehnte später leitet sie das Team von Mikaela Shiffrin, als erst zweite Cheftrainerin im alpinen Ski-Weltcup. Über eine, die den Wandel auf ihre Art vorantreibt.

Von Johannes Knuth

Wer 94 Siege im alpinen Ski-Weltcup auf seine Seite schafft - allein fünf in Flachau, einem der vibrierendsten Rennen des Winters -, der kennt sich damit aus, wie er Nebengeräusche am besten vertreibt. Dieser 94. Erfolg vom Dienstagabend, daraus machte Shiffrin keinen Hehl, ragte aber noch einmal heraus.

Am Samstag war ihr Freund, der Norweger Aleksander Aamodt Kilde, in der Zielschikane der Lauberhornabfahrt in Wengen schwer gestürzt und per Helikopter ins Krankenhaus nach Bern geflogen worden. Die Verletzungen waren weniger schlimm als befürchtet - eine ausgekugelte Schulter, Schnittwunden -, aber der Schock habe nachgewirkt, sagte Shiffrin in Flachau: Es sei "kein gutes Gefühl", dabei zuzuschauen, wie die Liebe ihres Lebens mit 120 Sachen Richtung Fangnetz rauscht. Es war eine persönliche Variation jener Botschaft, die sie in den vergangenen Jahren oft übermittelt hatte: Der Mensch und der mit ihm verknüpfte Hochleistungskörper lassen sich nun mal schwer trennen.

Der Hang in Flachau sei für sie noch immer "furchteinflößend"

Skirennfahrer richten fast jede Minute ihres Lebens darauf aus, im Wettkampf für eine Handvoll Minuten über eine Piste aus Eis zu hetzen, und Shiffrin meistert diese Kunst seit Jahren so gut wie kaum eine andere: jeden Tag noch ein bisschen besser zu werden, obwohl sie längst auf schwindelerregend hohem Niveau wandelt. Nur schrumpft der Lebensinhalt, dem man so großen Raum gibt - auch das hat Shiffrin schon erfahren - beizeiten auf eine Winzigkeit zusammen. "Es ist schwer, das zu erklären", sagte sie am Dienstagabend, als sie alle Trophäen und Glückwünsche entgegengenommen hatte; sie schaute zur Seite, Tränen schossen in die Augen. Nach Kildes Unfall habe sie nur noch daran gedacht, "irgendwie zu ihm ins Krankenhaus zu kommen. Vor zwei Tagen war mir das Rennen hier total egal".

Aber das hebt die Amerikanerin dann halt auch ab: dass sie ihren Kopf so weit ordnet, dass die Profisportlerin in ihr wieder Raum hat und sich in den Trubel in Flachau werfen kann, das wohl größte Slalom-Event der Frauen in diesem Winter.

Als das Flutlicht am Dienstagabend ansprang, Tausende aus der Slowakei angereiste Fans von Shiffrins größter Rivalin Petra Vlhova sangen, in Tröten bliesen und den Zielraum fast in ein Fußballstadion verwandelten - da zog Shiffrin kein bisschen zurück. "Dieser Hang ist für mich wirklich furchteinflößend", sagte sie später; sie finde es auch nach Jahren noch immer diffizil, die Wellen und das wechselnde Terrain einzuschätzen. "Im zweiten Lauf habe ich gleich am Anfang einen Fehler gemacht", sagte sie, da habe sie den Sieg schon außer Reichweite gewähnt: "Ab da habe ich einfach gedacht, dass ich es gerade laufen lassen kann." 27 Hundertstelsekunden lag sie im Ziel vor Vlhova, über eine Sekunde vor der drittplatzierten Sara Hector aus Schweden.

In Flachau zeigt sich, was Lena Dürr im Vergleich zu den großen Zwei noch fehlt

Und so schlängelte sie sich, selbst bei Minusgraden und fortgeschrittener Zeit, durch den Parcours aus Fragen: zu ihren Emotionen, zu der Marke von 100 Weltcup-Siegen ("Es ist echt schwer, daran jetzt zu denken, das ist noch so weit weg"), dass sie in der Slalom-Weltcupwertung nun wieder knapp vor Vlhova liegt ("Wird ein harter Kampf bis zum Saisonende"), dass ihr Vlhovas Anhang am kommenden Wochenende in Jasna, beim Heim-Weltcup der Slowakin, wohl noch mehr einheizen werde ("Ich finde, dass die slowakischen Fans für das ganze Rennen eine wunderschöne Atmosphäre schaffen").

Dann wurde Shiffrin noch gefragt, welche Botschaft sie mit ihrem Team senden wolle, für das sie über die Jahre hinweg bewusst Trainerinnen und Betreuerinnen engagiert habe. Sie habe, sagte Shiffrin, sich in ihrem ganzen Leben noch nie wegen ihres Geschlechts zurückgesetzt gefühlt, aber das sei auch im Spitzensport keineswegs selbstverständlich. Sie wolle mit ihrer Auswahl auch zeigen, "dass das Geschlecht überhaupt keine Rolle spielen sollte".

So führte der Bogen, beziehungsweise der letzte Schwung des Abends, zu einem weiteren Stein im Mosaik ihres jüngsten Erfolges: zu Karin Harjo, einer Norwegerin mit amerikanisch-japanischen Wurzeln, die Shiffrin vor der Saison als Cheftrainerin für ihr Team verpflichtet hatte. "Sie ist ein unfassbar wundervoller Mensch", sagte Shiffrin. "Es gibt Menschen, die wissen sofort, wie es einem geht, bevor man ein Wort darüber verliert. Mit Karin habe ich so eine Verbindung. Und sonst ist sie eine brillante Trainerin, sie versteht von Skitechnik genauso viel wie von moderner Datenanalyse."

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Es ist keine gewagte Prognose, dass sich Shiffrin auch deshalb nicht so leicht aus dem Kunstschneegestöber verjagen lassen wird. Auch nicht von Lena Dürr vom SV Germering, die in diesem Winter, vor diesem Weltcup im Salzburger Land, mit einer Ausnahme stets auf dem Podest gestanden hatte oder immerhin knapp daneben. Er habe selten eine Athletin erlebt, die ihr Tun so sehr und so präzise in den Dienst des Sports stellt, hatte ihr Cheftrainer Andreas Puelacher vor dem Rennen gelobt. Mit diesem Plan wolle man Vlhova und Shiffrin künftig nicht nur ärgern, sondern auch mal schlagen.

Am Dienstag zeigte sich indes, was Lena Dürr im Vergleich zu den großen Zwei noch fehlt. Statt es laufen zu lassen, wie es Vlhova und Shiffrin trotz aller Widrigkeiten gelang, sei sie überrascht gewesen, wie hart und eisig die Bedingungen gewesen seien, sagte Dürr. "Darauf kann man sich trotzdem einstellen, ich habe es aber irgendwie nicht geschafft", sagte sie, nachdem Platz 15 aktenkundig war - und lächelte ein Lächeln, hinter dem sich wohl auch so manche Nachdenklichkeit verbarg.

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