Mikaela Shiffrin in Sölden:Wie früher und doch ganz anders

Ski World Cup - Women's Giant Slalom

Tränen im Zielraum: Mikaela Shiffrin wird nach ihrem Erfolg von den Gefühlen überwältigt.

(Foto: Lisi Niesner/Reuters)

Nach zwei harten Jahren musste Skifahrerin Mikaela Shiffrin ihr Lachen erst wiederfinden und auch die volle Kraft für ihren Sport. Beim ersten Riesenslalom der Saison in Sölden lässt sie das Schwere wieder leicht aussehen.

Von Johannes Knuth, Sölden

Die ersten Festivitäten fielen ein wenig herzhafter aus, und das war jetzt ein durchaus ungewohntes Schauspiel. Es ist ja schon so, dass die Skirennfahrerin Mikaela Shiffrin sich aufrichtig über ihre Erfolge freuen kann, es ist nur oft auch so, dass die Gedanken der US-Amerikanerin unmittelbar nach der Zieldurchfahrt oft noch tief am Renngeschehen hängen. Am Samstag, nach Shiffrins Ankunft am Fuß des Rettenbachgletschers in Sölden, wirkte nun alles unbeschwerter, wobei das vor allem daran lag, dass Shiffrins Entourage im Zielraum präsenter wirkte als sonst, in leicht veränderter Besetzung. Mutter und Mentorin Eileen herzte das Personal des Ski-Ausrüsters, sie herzte Shiffrins Manager und auch den neuen Freund der 26-Jährigen, der Kraft seiner Prominenz (und der knallgelben Ski-Jacke) ein leichtes Ziel für die Fernsehkameras war: Aleksander Aamodt Kilde, der Norweger, der vor eineinhalb Jahren den Gesamtweltcup bei den Männern gewann.

Shiffrin quittierte ihre Leistung zurückhaltender, wie immer. Sie streckte kurz die Zunge raus, erleichtert, lächelte. Mit viel Wohlwollen meinte man einen Hauch Ausgelassenheit zu erkennen. Mehr hat sie freilich auch nicht unbedingt nötig, wenn man die Ausnahme zum Normalzustand macht, wie sie es seit Jahren tut, mit sechs WM-Titeln, drei Gesamtweltcupsiegen, unter anderem. Ihr Tagessieg am Samstag war ihr 70. im Weltcup - Lindsey Vonn, mit 82 Siegen die erfolgreichste Frau in diesem Gewerbe, war vier Jahre älter, als sie diese Wegmarke passierte.

Shiffrin benötigte dafür wiederum auch nur 192 Versuche, sie hat in ihrer Laufbahn jedes dritte Rennen gewonnen, in dem sie antrat; eine unfassbare Quote in einem Sport, in dem eine Rille im Eis den schönsten Plan zerbersten lassen kann. Und so hielt dieser Erfolg in Sölden, im Riesenslalom, in dem sie vor vier Jahren ihren zweiten Olympiasieg erstand, auch ein paar Botschaften bereit, die über das nackte Ergebnis hinausreichten. Zum Beispiel, dass die Amerikanerin offenkundig wieder bei vollen Kräften ist, wie früher und doch ganz anders.

Als sie im Vorwinter im Start stand, hatte sie oft die komplette Kurssetzung vergessen

Shiffrin und ihre Mutter hatten zuletzt noch mal erzählt, wie tief die Wunden waren, die das vergangene Jahr gerissen hatte. Ende Januar hatten sie im Hamsterrad des Weltcups gestrampelt, dann ereilte sie die Nachricht, dass Shiffrins Vater Jeff in Colorado einen Unfall hatte, von dem er sich nicht mehr erholen würde. Die Familie rang schwer mit der Trauer, Shiffrin erzählte später, dass sie es zunächst kaum aus dem Bett schaffte.

Später versuchten sie ganz allmählich die Lücke zu füllen, die Jeff Shiffrin im Ski-Unternehmen der Familie ausgefüllt hatte. Der folgende Winter, sagte Shiffrins Trainer Mike Day zuletzt der Washington Post, "war im Grunde wie die Rückkehr nach einer Verletzung". Nur, dass eine solche Blessur nicht heilt wie ein Kreuzbandriss, sondern wie eine Wunde, die für immer einen Spalt offenbleibt. Shiffrin stand in der Folge oft am Start, im Training, im Rennen, und merkte, dass sie die komplette Kursführung vergessen hatte, die die Athleten vor jedem Lauf bis auf den letzten Millimeter einstudieren. Selbst in den Rennen verlor sie immer wieder die Orientierung. So dicht war der Nebel im Kopf, dass ihre Trainer sie zunächst von allen Speed-Rennen abmeldeten. Dort können derartige Unsicherheiten tödlich enden.

Es dauerte eine Weile, aber irgendwann merkte Shiffrin, dass aus jeder Tragödie wieder Zuversicht gedeihen kann, wie verbrannter Waldboden, der für eine Zeit besonders fruchtbar ist. Sie las das Buch von Sheryl Sandberg, der Co-Geschäftsführerin von Facebook, deren Mann im Alter von 48 Jahren verstorben war. Sie fühlte, wie sich Freundschaften stärkten, Wesentliches von Unwesentlichem trennte, wie sich der Nebel langsam lüftete.

Sie fand mit Kilde zusammen, einem Partner, den ihre Mutter zuletzt "wie Medizin" beschrieb - nicht nur, weil beide eine Menge über das Skifahren teilen und voneinander lernen, sondern vor allem, weil Kilde sie auf einen Pfad geführt habe, auch abseits des Sports, auf dem Shiffrin "wieder lachen konnte". Bei der WM in Cortina im vergangen Frühjahr startete sie in vier Rennen und gewann vier Medaillen, Gold in der Kombination, Silber im Riesenslalom, Bronze im Slalom und im Super-G. Schon damals hieß es aus ihrem Umfeld, dass sich die Konkurrenz warm anziehen könne, sobald Shiffrin wieder ihr gewohntes Trainingspensum abspulen könne. Und jetzt?

Shiffrin erwägt, bei Olympia in Peking in allen fünf Disziplinen zu starten

Sie habe in Sölden eine Antwort auf die Frage finden wollen: "Ist dieses Feuer noch da, das ich vorher hatte?", sagte Shiffrin nach ihrem Erfolg. Dieser Drang also, jedes Training, jede Tiefkniebeuge, jeden Mittagsschlaf in den Dienst zu stellen, noch ein bisschen besser zu werden?

Die Antwort am Samstag fiel dann recht eindeutig aus, so sicher und leicht, wie Shiffrin das Schwere wieder aussehen ließ, vor allem im Steilhang. 14 Hundertstelsekunden lag sie am Ende vor der bärenstarken Schweizerin Lara Gut-Behrami, 1,30 Sekunden vor der Slowakin Petra Vlhova, der Gesamtsiegerin des Vorwinters. Der Wettstreit der drei dürfte auch diesen Winter prägen, wobei Shiffrin sich in der Rolle der Gejagten mittlerweile offenbar etwas wohler fühlt als sonst. Vor den Rennen in Sölden hatte sie sogar offenbart, dass sie erwäge, bei den Winterspielen im Februar in Peking in allen fünf Disziplinen zu starten - den gebirgshohen Erwartungen zum Trotz, die ihr bei den Spielen vor vier Jahren schwer zugesetzt hatten, als sie sich am gleichen Unterfangen verhoben hatte.

Erst einmal, sagte Shiffrin, freue sie sich auf die Trainingseinheiten in den USA, auf die ersten Speed-Rennen in Lake Louise, vor allem auf den Technik-Weltcup Ende November an der US-Ostküste in Killington, der im Vorwinter ausgefallen war. "Mir haben die Rennen dort so gefehlt, ich hatte sie davor fast für selbstverständlich erachtet", sagte Shiffrin. Dann fügte sie an: "So was wird mir nie wieder passieren."

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