Deutsche Leichtathletik:Mihambo humpelt - Hartmann bricht Rekord

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"Wenn ich Glück habe, ist es nichts. Wenn ich Pech habe, ist es eine Zerrung oder ein Muskelfaserriss": Weitspringerin Malaika Mihambo schmerzte am Sonntag nach einem Flug in die Sandgrube der Oberschenkel. (Foto: R. Schmitt/Beautiful Sports/Imago)

Vor der WM gibt die deutsche Leichtathletik bei ihren nationalen Titelkämpfen ein diffuses Bild ab: Einige Führungskräfte zeigen Erbauliches, sogar einen deutschen Rekord - dahinter klaffen Lücken. Und Malaika Mihambo geht verletzt von der Bahn.

Von Johannes Knuth, Kassel

Es waren nur ein paar Minuten, die am Sonntagabend im Auestadion von Kassel verstrichen. Aber zwischen den Ereignissen am Anfang und Ende dieser Spanne schienen Welten zu liegen.

Phase eins: Da führte das Stadion auf, wie sich die Stille in einem Rund mit 14 000 Menschen anfühlt, als habe jemand all der Glückseligkeit den Stecker gezogen, dem Wummern aus den Boxen, den aufgeregten Ansagern, einer Stimmung wie auf der Kirmes. Weitspringerin Malaika Mihambo hatte sich gerade in ihren vierten Versuch aufgemacht, zwei Sprünge auf 6,93 Meter hatte sie schon in die Bücher getragen, nach einer Saison, die mit leisen Enttäuschungen angelaufen war. Sie habe noch einmal mehr in diesen Sprung legen wollen, erklärte sie später, es lief ja so gut, endlich wieder.

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Und dann: Brach sie plötzlich aus dem Galopp aus, sank auf die Bahn. Konkurrentinnen stützen sie, bis Mihambo an die Bande gehumpelt war. Als sie kurz darauf in einem Gang im Stadion verschwand, noch immer humpelnd, war eine dicke Bandage um den linken Oberschenkel gespannt. Der Titel war ihr da nicht mehr zu nehmen, aber was kümmert einen die siebte nationale Weihe, wenn auf einmal eine Saison ins Wanken gerät?

Phase zwei, ein paar Momente später: Da bog der 200-Meter-Läufer Joshua Hartmann auf die Zielgerade ein, und schnell spürte man, dass da einer nur noch in einem Wettkampf mit der Zeit steckte. 20,02 Sekunden sprangen kurz darauf im Ziel an - fast zwei Zehntelsekunden weniger als bei Tobias Ungers deutschem Rekord - und hätte Hartmann nicht kurz vor dem Ziel den Arm in die Luft geworfen, er wäre wohl sogar unter die 20-Sekunden-Marke getaucht.

Man musste ihm den jugendlichen Leichtsinn wohl nachsehen: "Wenn man deutscher Meister wird, darf man das auch mal", sagte er. Zumal, wenn sein erster deutsche Meistertitel vielleicht erst der Anfang von etwas noch Größerem war.

Viel Schonkost im Angebot

Und damit waren die Pole, zwischen denen sie am Wochenende bei ihren Meisterschaften in Kassel schwankten, schon ganz gut abgesteckt. Der überschaubare Kreis an Topleistern im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV), der es unfallfrei nach Kassel geschafft hatte, steckte vornehmlich im Wettstreit mit sich selbst. Zwar sprangen dabei einige sehr verdienstvolle Leistungen heraus, veredelt von Hartmanns Lauf in die Sportgeschichtsbücher. Ansonsten war viel Schonkost im Angebot (oder, wie es oft zu hören war: Spannung!). Und die Frage, wie daraus eine konkurrenzfähige Mannschaft erwachsen soll, vor allem für die Weltmeisterschaften in sechs Wochen - erst recht, wenn die Olympiasiegerin und zweimalige Weltmeisterin humpelnd im Stadiongang verschwindet.

Neuer deutscher Rekordhalter: Joshua Hartmann. (Foto: Axel Kohring/Beautiful Sports/Imago)

Ein Rundgang durch die Ressorts hatte zuvor schon nur vereinzelt Höhepunkte ins große Gesamtbild getupft. Speerwerfer Julian Weber setzte sich mit 88,72 Metern an die zweite Stelle in der Weltjahresbestenliste, hatte dabei aber mehr als elf Meter Vorsprung auf den zweitplatzierten Maurice Voigt - und fast 17 auf Thomas Röhler, den Olympiasieger und einstigen Europameister. Gina Lückenkemper steckt weiter in "krasser" Form - ist damit im deutschen Sprint derzeit aber recht allein. Carolina Krafzik gewann ihr Halbfinale über 400 Meter Hürden in Meisterschaftsrekordzeit (54,47 Sekunden/im Finale reichten 54,87 zum Titel). Ihre Kollege Joshua Abuaku, der in 48,45 Sekunden zeitgleich vor Constantin Preis gewann, teilt sich mit dem Zweiten nun gar die zweitschnellste Zeit in der deutschen Historie. Meistens klafften hinter den Siegern aber auch große Lücken in den Ergebnislisten, bei den Siegerläufen von Lea Meyer über 5000 Meter (15:26,82 Minuten) und 3000 Meter Hindernis (9:33,19) etwa. Speerwerferin Christin Hussong, ausgerüstet mit einer Bestweite von 69,19 Metern, konnte froh sein, dass 56,79 Meter zum Titel reichten.

In Budapest werde die Auswahl "leistungsfähiger" sein, sagt die Cheftrainerin

Das andere sind die Verletzungen, die viele verdiente Kräfte weiter verlässlich heimsuchen, trotz aller digitalen Monitoring-Werkzeuge, mit denen die Trainer die Gesundheit ihrer Athleten überwachen sollen - so wünscht es sich zumindest der DLV. Speerwerfer Johannes Vetter hat, nachdem er eine Weile die 100-Meter-Marke jagte, große Mühe, überhaupt gesund in einen Wettkampf zu finden - WM-Start ungewiss. Im Dreisprung der Frauen fehlten in Kassel vier Top-Springerinnen verletzt: Neele Eckhardt-Noack, Kristin Gierisch, Jessie Maduka, Kira Wittmann. 400-Meter-Läuferin Laura Müller erlitt im Vorlauf einen Achillessehnenanriss. Zwar fehlten auch einige Nachwuchskräfte, weil sie für die nahende U-23-EM geschont wurden. Aber dass man die ohnehin seit Jahren schrumpfenden Startfelder - dem kompakten, eventfreundlichen Zeitplan geschuldet - trotzdem oft nicht befüllen konnte, stimme "bedenklich, vorsichtig formuliert", sagte Athletensprecher Maximilian Thorwirth.

Letztlich spiegelte sich in Kassel auch das wider, was die deutsche Leichtathletik seit Jahren immer heftiger beschäftigt: Da kämpft auch ein olympischer Kernsport mit sich, was vor einem Jahr im schlechtesten WM-Abschneiden der Historie gipfelte. Sie könne schon jetzt versprechen, dass die Auswahl für Budapest "leistungsfähiger" sein werde, sagte Cheftrainerin Annett Stein. Den WM-Kandidaten reicht diesmal nicht nur die Norm oder ein Platz in der Weltrangliste, über die der Weltverband die Startfelder befüllt. Die Athleten müssen diesmal auch eine vom DLV vorgegebene Stabilisierungsnorm einreichen, um ihre Fitness nachzuweisen. Was die Cheftrainerin unter einem daraus resultierenden, leistungsfähigen Team verstehe, sagte sie auch: Es solle vor allem um Plätze im Finale und Halbfinale kämpfen, nicht gleich in der ersten Runde ausscheiden.

Mihambos Trainer geht von einer leichten Zerrung aus

Eine der wenigen, die dabei die Erwartungen zuletzt beängstigend zuverlässig erfüllt hatte, war Mihambo. Die absolvierte am Sonntag zwar sogar noch tapfer das Protokoll, das von einer Titelinhaberin erwartet wird: Autogramme schreiben, Siegerehrung, Interviews. Aber sie humpelte merklich von Pflicht zu Pflicht, sprach von Problemen im Oberschenkel, die sie vom kalten Wetter bei der Diamond League aus Stockholm mitgebracht hatte; von Schmerzen, die sie nun spüre. Und während der DLV eine "Verhärtung" vermeldete, die ein erster Ultraschall gezeigt habe, klangen Mihambo und ihr Trainer Uli Knapp skeptischer. Man könne erst nach zwei, drei Tagen überhaupt erkennen, wie sehr der Muskel geschädigt sei, sagte Mihambo mit Verweis auf die Ärzte. Ihr Trainer ging von einer leichten Zerrung aus - im besten Fall. Es war ein finaler Spannungsbogen, auf den sie in Kassel sehr gerne verzichtet hätten.

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