ATP-Finale im Tennis:Die Hierarchie ist durchbrochen

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Daniil Medwedew mit der Trophäe der ATP Finals. (Foto: Getty Images)

Der Triumph des Russen Medwedew beim Jahresabschluss in London verdeutlicht, dass "die großen Drei" im Tennis nicht mehr unerreichbar sind - die neue Generation holt immer schneller auf.

Von Gerald Kleffmann

Dieser Samstag im November 2020 war ein ungewöhnlicher. Da saßen Novak Djokovic und Rafael Nadal und reflektierten ihre Niederlagen in den Halbfinals der ATP Finals in London, dem Jahresendturnier der Profitour. Am selben Tag, nur Stunden voneinander getrennt. Bei beiden klang die Analyse so, als hätten sie exakt das Gleiche durchlitten. Wann hatte es das einmal gegeben, diese Konstellation bei Vertretern der "großen Drei" (zu denen noch der im Aufbautraining befindliche Schweizer Roger Federer zählt): dass sie gedanklich vereint ihre Unterlegenheit einräumen mussten?

Djokovic, der an Dominic Thiem mit 5:7, 7:6 (10), 6:7 (5) gescheitert war, urteilte: "Was er im Tie-Break des dritten Satzes bei 0:4 gemacht hat, war unwirklich." Djokovic erinnerte sich, dass er doch alle seine ersten Aufschläge ins Feld gebracht hatte. Aber Punkt für Punkt zerrann seine Vier-Punkte-Führung, was an Thiem lag: "Er vernichtete den Ball. Aus jeder Ecke ging er rein, er spielte sehr kurze Slice-Schläge, Winkel ...", führte Djokovic aus. "Was kann ich machen?"

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Er fragte das rhetorisch. Nadals Analyse nach dem 6:3, 6:7 (4), 3:6 gegen Daniil Medwedew klang so: "Er verdiente es, weil er alles versuchte und alles gelang." Bei 5:4 im zweiten Satz hatte sich Nadal einen Vorteil herausgekämpft, er schlug nach einem Break zum Sieg auf. Es reichte nicht. "Er spielte ein gutes Spiel und ich nicht. Ich spielte ein schlechtes Spiel." Und auch Nadal fragte so, dass die Antwort klar war: "So war's, nicht?" Thiem erging es am Sonntagabend seinerseits ähnlich. Er dominierte zunächst das Finale. Doch Medwedew siegte 4:6, 7:6 (2), 6:4. Er löst damit den Griechen Stefanos Tsitsipas ab, den als Vorjahressieger.

Normalerweise sagen das, was Djokovic und Nadal da erklärt hatten, sonst in schöner Regelmäßigkeit die zumeist jüngeren Kontrahenten über den Weltranglisten-Ersten und den Weltranglisten-Zweiten. Man muss nicht gleich von einer Wachablösung sprechen, die in Englands Metropole stattfand. Tennis ist ohnehin ein Sport, in dem Machtverschiebungen selten an einem Tag X stattfinden, stattdessen sind das lange, oft mehrjährige Prozesse. Das Bemerkenswerte an dieser durch die Pandemie verkürzten Saison aber ist, dass sich die engsten Verfolger von Djokovic und Nadal zunehmend mit Qualitäten durchsetzen, für die sonst die ewigen Branchendominatoren stehen: spielerische Überlegenheit, Zähigkeit, Widerstandsfähigkeit. Vor allem: Effizienz in kritischen Phasen.

Federer hatte einmal schön erklärt, wie er sich seine Matches gestaltet: Man müsse Sätze nicht 6:1, 6:2 gewinnen. Aber man muss da sein, wenn Chancen da sind, etwa für ein Break. Und diesen errungenen Vorteil müsse man durch den Satz transportieren. Oder durch ein entscheidendes Spielformat wie einen Tie-Break. Djokovic und Nadal haben diesmal genau das nicht vollbracht: den Vorteil abzusichern. Dabei boten sie durchaus ihre Klasse auf, was die Erfolge von Thiem und Medwedew noch bedeutsamer erscheinen lässt.

Tatsächlich sind es eher kleine Details, die dazu führten, dass gerade der Österreicher und der Russe so sehr aufrückten in der Hierarchie. Nur sind es entscheidende. Als Thiem, der bei den US Open seinen ersten Grand-Slam-Titel in einem denkwürdigen Finale gegen den Deutschen Alexander Zverev gewonnen hatte, nun gefragt wurde, ob er sich 2020 auf dem Platz anders fühle, sagte er: Eigentlich nicht - aber er glaube immer an sich. 0:2-Satzrückstand in New York gegen Zverev, 0:4 im Tie-Break gegen Djokovic in London? Thiem kam jeweils zurück. Auffallend auch, wie viele Tie-Breaks er überhaupt zuletzt für sich entschied. In London hatte Nadal zweimal das Nachsehen gegen ihn. Zverev auch bei den US Open im finalen Satz.

Am Samstag Djokovic. Thiem sprach, was ihn ehrte, auch von Glück, das ihn mal hier und da begünstigte. Aber der Trend spricht klar dafür, dass seine Crunchtime-Momente kein Zufall sind. Er provoziert regelrecht den Erfolg, vor allem dann, wenn er es schafft, seiner Linie treu zu bleiben, die ein klares Bild hat: maschinenhaft von der Grundlinie den Gegner unter Druck setzen, bis der wackelt. Thiems Spiel selbst wackelt auffallend gerne dann, wenn er diese Linie verlässt. Was immer seltener vorkommt. Die Basis für seine hohe Intensität holt sich der 27-Jährige seit Jahren durch Trainingseinheiten, die wohl auch Navy Seals an ihre Grenzen bringen würden.

Das Faszinierende an der Entwicklung des Turniersiegers Medwedew ist, dass er spielerisch einen anderen, ebenfalls erfolgreichen Weg geht. Der 24-Jährige, einer der schlauesten Strategen, kann sein Spiel wie wenige variieren und justieren, auch während einer Partie. Medwedew hat nicht den einen Matchplan, den er stringent wie Thiem durchziehen muss. Er coacht sich quasi selbst, und wenn er merkt, Varianten funktionieren nicht, korrigiert er sich. So war es gegen Nadal. Nach verlorenem ersten Satz fühlte er, "dass ich mehr auf seine Rückhand gehen muss".

Sie erschien ihm nicht so hart wie gewohnt. Gleichzeitig fing Medwedew an, seine Vorhandschläge zu mixen, das sei für ihn "der Schlüssel" gewesen. Natürlich muss man das erst mal schaffen, einer Koryphäe wie Nadal Aufgaben zu stellen, aber Medwedew hat den Werkzeugkasten dafür. Er muss nur die richtigen Schraubenzieher wählen. Manchmal geht das auch schief; es kann ein Nachteil sein, wenn man zu kreative Möglichkeiten besitzt.

Gegen Thiem war es aber wieder ein Vorteil: Medwedew entdeckte im dritten Satz das Mittel der Netzangriffe. "Dieses Mal hat der Kopf gewonnen", befand Medwedew richtig und bezog Thiem in sein Fazit ein. "Es ist großartig, wie wir es geschafft haben, zwei der größten Spieler des Sports zu besiegen." Für ihn steht fest: "Wir fangen an, unsere Zeichen zu setzen." Er besonders. Sein Sieg am Sonntag ist bislang der größte seiner Karriere.

© SZ vom 23.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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