Freeride World Tour:Piefke auf Abwegen

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Ein Bild zum Staunen: Max Hitzigs gewaltiger Sprung in Kicking Horse. (Foto: Jeremy Bernard / oh)

Max Hitzig zählt mit 20 zu den jungen Wilden in der Freeride-Szene. Für den riskanten Sport zwischen zerklüfteten Felsen braucht es vor allem Erfahrung - trotzdem mischt er ganz vorne in der World Tour mit. Seit Kurzem sogar für Deutschland.

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Bei der letzten Entscheidung liegt Max Hitzig doch noch daneben. Bis hierher hat er auf der Fahrt vom Wildeseeloder hoch über Fieberbrunn alles richtig gemacht: Rückwärtssalto, 360-Grad-Drehung, dazu noch ein so gewaltiger wie gewagter Sprung, den an diesem Tag keiner der Konkurrenten übertreffen sollte, das alles vorgetragen wie aus einem Guss, in einem höllischen, aber jederzeit kontrollierten Tempo. Fehlt nur noch der letzte Sprung vor dem Ziel.

Manche nutzen ihn, um nochmal etwas zu wagen und Punkte zu sammeln, manche gehen auf Nummer sicher und hüpfen eher defensiv drüber. Hitzig wählt die Offensive, springt einen weiteren 360er - und stürzt. Nicht schlimm, er steht gleich wieder, schwingt Sekunden später im Ziel ab. Unversehrt, aber chancenlos.

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Ohne den kurzen Absetzer im Schnee wäre er wohl als Führender in den finalen Wettkampf gegangen, mit besten Chancen, der erste deutsche Sieger der Freeride World Tour seit 2009 zu werden. Damals gewann Snowboarderin Aline Bock, eine gebürtige Gießenerin. Hitzig ist in Bludenz geboren, in St. Gallenkirch im Montafon aufgewachsen, stets für Österreich gestartet, bis er unlängst einräumte, einen deutschen Pass zu haben - Mama Inge stammt aus Wuppertal, hatte sich damals im Urlaub in den Skilehrer verguckt. Die Sprüche von den Kollegen über den Nationenwechsel nimmt der 20-Jährige mit Humor: "Jetzt bin ich wohl oder übel der Piefke." Ein sehr talentierter Piefke.

Probelauf? Fehlanzeige. Nur von unten, per Fernglas, darf der Hang vorab inspiziert werden

Seit 15 Jahren ermitteln die Freerider auf Skiern und Snowboards ihre Besten. Das Wettkampfformat: einen unverspurten, von Felsen zersetzten Hang bei freier Spurwahl möglichst spektakulär, flüssig und sicher bewältigen. Probelauf? Fehlanzeige. Nur von unten, per Fernglas, darf der Hang vorab inspiziert werden. Normalsterblichen Pistenfahrern bleibt vor Staunen der Mund offen stehen: Wie kann man nur in einem solch unwirtlichen Gelände per Rückwärtssalto 20, 25 Meter durch die Luft segeln?

Nun, manchmal ergibt sich die Genese zum vermeintlichen Hasardeur einfach so. Ist für den einen der Backflip so normal wie für den anderen das Radfahren. Hitzig ist ein Beispiel für das Hineinwachsen in einen Extremsport. Mit zwei stellt ihn Papa Edwin, ein Skilehrer und Bergführer, auf die Skier, mit sechs geht er mit ihm ins Gelände, in den Tiefschnee, mit zehn oder zwölf springt der Bub den ersten Rückwärtssalto, mit 16 steht der Berufswunsch fest: Freeride-Profi. Nach der Elektrotechnik-Lehre kündigt er, konzentriert sich aufs Freeriden. Mit 18 erste Wettkämpfe, gleich auch Erfolge auf der Junior-Tour. Mit 19 eine Wildcard für den Wettkampf in Fieberbrunn, den er prompt gewinnt. Ein Jahr später kommt er als Aspirant auf den WM-Titel zurück - und wird kaum fertig mit dem Autogramme schreiben.

Die Eröffnungszeremonie des Wettbewerbs ist ein Test für die Wasserdichte der Skijacken: Es schüttet wie aus Kübeln, was den Restschnee zu einer traurigen Pampe werden lässt. Tagelang werden die Athleten auf adäquate Wettkampfbedingungen warten müssen. Zeit für Interviews. Davon musste Hitzig zuletzt viele geben. Bei einem der fünf Tour-Stopps, dem Event in Kicking Horse, British Columbia, zeigte Hitzig den wohl spektakulärsten Sprung der vergangenen Jahre: einen Backflip mit schier endlosen drei Sekunden Airtime, wie die Freerider die Zeit in der Luft nennen.

Max Hitzig ist vom österreichischen zum deutschen Verband gewechselt. (Foto: Bernard / oh)

Nach der Landung hört man seinen Juchzer, im Ziel die kosmopolitische Anerkennung der Kollegen: "insane", "ridiculous", und von Hitzig selbst: "So geil!" Der Clip vom Sprung über "Rodney's Pyramid" ist nur 87 Sekunden lang, hat aber einiges in seinem Leben in Bewegung gesetzt: Ein paar potentielle Sponsoren hätten sich schon gemeldet, erzählt er.

Immer wieder rätselt man über diese irrwitzige Show. Sitzt so ein Bursche aber vor einem, entpuppt er sich eben nicht als hirnloser Haudrauf, sondern als kühl kalkulierender Risikomanager. Hitzig kann das Prinzip Freeride World Tour in einem Satz erklären: "Das Punktesystem ist einfach: Wenn man einen Trick macht, kriegt man doppelt so viel Punkte, als wenn man normal runterspringt." Ist also ohne Backflip oder ähnlich riskante Manöver nichts zu holen? "Schon", sagt Hitzig, "aber dann muss man noch aggressiver, mit noch mehr Risiko fahren." Für ihn keine Option.

Der Wettkampf in Fieberbrunn führt vor Augen, dass es mit Wagemut allein nicht getan ist

Den gewaltigen Sprung in Kicking Horse - wo er zuvor noch nie war - erklärt er so: "Wenn man da runter fährt, hat man mehrere Möglichkeiten zu springen, aber keine, die heraussticht. Wo ich gefahren bin, gab's nur zwei, drei Möglichkeiten, dafür aber markante Felsen wie Rodney's Pyramid. Ich war der einzige, der da gesprungen ist, kannte den Sprung von Videos - sonst kommt man nicht auf die Idee, da runterzuspringen. Vor drei Jahren ist einer gerade runter - ich habe genau analysiert, wie lang er in der Luft war, und dann versucht, das umzuwandeln. Das war schon nicht ohne."

Der Wettkampf in Fieberbrunn führte vor Augen, dass es in diesem Sport mit Wagemut allein nicht getan ist. Es gab ungewöhnlich viele Stürze, vor allem von Jüngeren. Die schwierigen Bedingungen - ein paar Zentimeter Neuschnee auf gefrorenem Untergrund, so wenig Schnee wie noch nie bei einem Wettkampf hier - hatten routinierte Taktiker besser im Griff. Sie wagten weniger, gewannen mehr. Die 30-jährige Arianna Tricomi, Siegerin bei den Frauen, auf der Tour seit 2016, sagte: "Das war der Beweis, dass man für diesen Sport Erfahrung braucht. Vollgas funktioniert bei solchen Verhältnissen nicht."

Sieger bei den Männern wurde der 28-jährige Andrew Pollard, der Freeride-Wettkämpfe seit der Highschool fährt und die Tour seit vier Jahren kennt. Er zeigte einen eher unspektakulären Lauf, ohne wilde Tricks, balancierte die Bedingungen perfekt aus, fuhr einfach smart. Auf Instagram schrieb er: "Ich spiele das Beständigkeits-Spiel schon eine Weile - nun hat es sich ausgezahlt." Vorjahressieger Hitzig wird Sechster und hat seine Lektion gelernt: "Unten war ich leider etwas übermotiviert und bin bei dem 360 zu weit gesprungen. Aber insgesamt war es einer meiner besten Runs, und ich bin sehr happy."

Vor dem letzten Wettkampf kommende Woche liegt er im Klassement auf Platz vier, aber noch in Schlagdistanz. Gefahren wird in Verbier, auf dem berüchtigten Bec des Rosses, einem besonders garstigen Stück Natur: Felsen von oben bis unten, nur selten unterbrochen von Schneefeldern, Hangneigung: 55 bis 60 Grad. Am Übermut wird Max Hitzig dort wohl nicht scheitern. Voller Respekt sagt er: "Ist schon ein krasser Berg." Darauf, dass er keinen Backflip wagt, sollte man trotzdem lieber nicht wetten.

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