Oregon-Projekt von Nike:"Ich wurde emotional und körperlich missbraucht"

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Gedemütigt: Mary Cain. (Foto: Charlie Neibergall / AP)
  • Die einst als neue US-Wunderläuferin gefeierte Mary Cain erhebt Vorwürfe gegen das Oregon-Laufprojekt von Nike und dessen Chefcoach Alberto Salazar.
  • Mehrere Zeugen bestätigen Cains Vorwürfe, auch andere Läuferinnen melden sich zu Wort.
  • Der Konzern steckt in einer Zwangslage.

Von Thomas Kistner, München

Mitte Oktober wurde das Nike Oregon Project (NOP) eingestellt. Zuvor war Alberto Salazar, Gründer und Mastermind hinter dem hocheffektiven Läufer-Trainingscamp auf dem Gelände des weltgrößten Sportartikelkonzerns, im Zuge einer Dopinguntersuchung vier Jahre gesperrt worden; ebenso der NOP-Arzt Jeffrey Brown. Dem Hormonexperten hatte Salazar jahrelang Läufer mit merkwürdig identischen Problemen zugeleitet: Sie alle litten angeblich unter Schilddrüsen-Problemen, denen Doktor Brown dann fleißig mit Hormon-Gaben entgegenwirkte.

Das war nur eine der Abstrusitäten, welche die amerikanische Anti-Doping-Agentur Usada zum Nike-Projekt ermittelte. Salazars experimentelles Medizinverständnis dokumentierte sich auch in gewaltigen Carnitin-Infusionen, die er an Vertrauten erproben ließ. Die angeblich dramatischen Leistungsschübe empfahl er Lance Armstrong, dem gefallenen US-Radsporthelden, der damals Triathlet werden wollte, er referierte sie aber auch direkt an den langjährigen Nike-Vorstandschef Mark Parker. Der 65-Jährige, selbst ein passionierter Läufer, pflegte ein enges Verhältnis zu Salazar. Parker trat im Oktober zurück, kurz nach der Schließung des Oregon-Projekts. Doch offiziell distanziert hat sich der Konzern bis heute nicht von Salazar. Im Gegenteil. Mit absurden Interpretationen, wonach der Coach im Zuge des Urteils sogar von der Dopingmittel-Vergabe reingewaschen worden sei, hat sich Nike fest an ihn gekettet. Und in Salazars Verteidigung investierte die Firma bereits Millionen.

Salazar und sein Stab sollen sie zu Gewichtsabnahmen gedrängt haben

Vor dem Hintergrund ist Nikes jüngste Erklärung zu sehen, dass der Konzern nun die neuen Vorwürfe der NOP-Athletin Mary Cain "extrem ernst nehmen und genau untersuchen" wolle. Cain hatte vergangenen Donnerstag in der New York Times Erschütterndes aus ihrer Zeit im Projekt dargelegt: "Ich wurde von einem System emotional und körperlich missbraucht, das Alberto entworfen und Nike unterstützt hat."

Als Cain im Jahr 2013 dem NOP beitrat, mit 17, galt sie als kommende Superläuferin der Leichtathletik. Doch Salazar und sein Stab hätten sie zu Gewichtsabnahmen gedrängt, beklagt die 1,70 Meter große Athletin. Sie hätte keine 52 Kilo wiegen sollen, sei ständig vor versammeltem Team gewogen und von Salazar sogar vor Publikum als zu schwer gedemütigt worden. Auch soll ihr der Chefcoach die systematische Einnahme von Antibabypillen und Diuretika zur Urin-Ausschwemmung verordnet haben. Durch die pharmazeutisch befeuerte Aushungerung habe sie drei Jahre ihre Periode nicht bekommen und überdies fünf Knochenbrüche erlitten, bis zu ihrem Ausstieg 2015. Einflüsse einer chronischen Unterversorgung mit Kohlehydraten auf Knochendichte und Menstruation sind belegt. Während Cain sagt, sie habe am Ende einen Suizid erwogen, weist Salazar, wie in der Doping-Affäre, alle Vorwürfe zurück. Cain habe ihm diese Probleme nie vorgetragen, und über das Gewichtsthema habe er mit ihrem Vater, einem Arzt, gesprochen.

Doch die Zeit origineller Dementis (seine Testosteron-Experimente hatte Salazar mit Schutzmaßnahmen für den Fall begründet, dass böse Rivalen seinen Athleten eine Hormonsalbe einmassieren) ist vorbei. Und für Nike wird der Boden brüchig. Mit dem Widerstand von Betroffenen wächst die Gefahr, dass immer mehr über das sektiererische Projekt rund um die klapperdürren Firmenläufer ans Licht kommt. Cains Vorwürfe werden bereits bestätigt. Salazars Ex-Assistent Steve Magness sagt, er habe Athletinnen systematisch zum Abnehmen drängen müssen. Hätte er bedenkliche Labordaten vorgelegt, habe die Leitung das ignoriert: "Ich weiß, was ich sehe: Ihr Hintern ist zu groß."

"Ich sei zu dick und hätte den größten Hintern an der Startlinie"

Der kanadische Spitzenläufer Cameron Levins twitterte an Cain: "Ich wusste, dass unser Trainerstab von ihrer Gewichtsabnahme besessen war", im Athletenkreis sei "offen darüber gesprochen" worden. Ex-Kollegin Amy Begley schrieb, sie sei 2011 aus dem NOP gefeuert worden, nachdem sie in einem 10 000-Meter-Rennen Sechste geworden sei. Grund: "Ich sei zu dick und hätte den größten Hintern an der Startlinie." Magness sagt, die Kultur des NOP "war darauf angelegt, es an die Grenzen zu treiben". So sehen es auch die Usada-Ermittler. Am "schockierendsten", heißt es dort, empfinde man Nikes Reaktion. Der Konzern habe nicht mal versucht, die Whistleblower der Affäre zu schützen.

Das macht Nikes Zwangslage evident. Bis zu zehn Millionen Dollar wurden Insidern zufolge in Anwaltskosten für Salazar und Brown gepumpt, der Gang in die Berufung ist angekündigt. Zugleich muss Nike befürchten, in den Sog einer anderen enormen Affäre zu geraten: die des russischen Staatsdopings. Das Internationale Olympische Komitee steht unter Druck, Moskaus Armada für Tokio 2020 erneut zu sperren oder neutral zu setzen. Muss das IOC, das Putin äußerst gewogen ist, hart in Russland durchgreifen, so dürfen US-Sünder kaum auf Milde hoffen. IOC-Boss Thomas Bach droht schon an, das Nike-Projekt von der Wada durchleuchten zu lassen: viel umfassender als bisher.

© SZ vom 11.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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