Leichtathletik:Flucht in die Rekordbücher

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Amanal Petros, hier noch bei der Team-EM 2019, hat sich mittlerweile dem Marathon verschrieben (Foto: imago images / Chai v.d. Laage)

2:07:18 Stunden: Amanal Petros verbessert in Valencia den deutschen Marathon-Rekord um mehr als eine Minute. 2012 flüchtete er aus Eritrea nach Bielefeld - und fand vor allem über das Laufen in die Gesellschaft.

Von Johannes Knuth

Man kann sich den Rahmen seines größten Erfolgs nicht immer aussuchen, aber der Marathonläufer Amanal Petros konnte das am Sonntag ziemlich sicher verschmerzen. Ayad Lamdassem war gerade vor ihm ins Ziel gestürmt, und weil der Spanier dabei den Landesrekord gebrochen hatte, in 2:06:34 Stunden, achtete die TV-Regie nicht auf den hoch aufgeschossenen Läufer im schwarzen Dress, der jetzt auf den Steg einbog, welcher auf einem Teich vor dem Ciutat de les Arts i les Ciencies in Valencia schwamm. So schob sich Amanal Petros erst mal weitgehend unbemerkt ins Ziel, hinein in eine neue Sportlerwelt.

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Die spanische Hafenstadt hat sich in den vergangenen Jahren einen Namen in der Langstreckenszene gemacht, mit ihrem flotten Kurs und dem milden Klima Anfang Dezember, das die empfindsame Läufermuskulatur umschmeichelt. Kein Wunder, dass die Rekordwelle, die seit Längerem durch den Straßenlauf rollt, auch am Sonntag nicht an Kraft verlor. Diesmal war es der Kenianer Kibiwott Kandie, der den Halbmarathon-Weltrekord um eine halbe Minute verbesserte (57:32 Minuten), und der rasende Sog der Marathonläufe riss auch viele deutsche Athleten mit, vor allem Amanal Petros natürlich: Der 25-Jährige trimmte in 2:07:18 Stunden mehr als eine Minute von jener Bestzeit, mit der Arne Gabius erst 2015 die 27 Jahre alte Bestmarke von Jörg Peter getilgt hatte. Erstaunliche Zeiten im Langstreckengewerbe, auch im deutschen.

Sein Trainer steht "kurz vor dem Herzstillstand"

Petros' Erfolgsformel klang einfach: Er stürzte sich schnell ins Rennen - und ließ dann einfach nicht mehr nach. 14:54 Minuten nach fünf Kilometern, 29:59 nach zehn, 63:09 zur Halbzeit: Tono Kirschbaum, der Petros seit zwei Jahren beim TV Wattenscheid 01 betreut, stand "kurz vor dem Herzstillstand", wie er bei leichtathletik.de später erzählte. Aber: Wenn Petros sich wehrhaft fühle, sagte Kirschbaum, scheue er kein Risiko, und tatsächlich: Er hielt sein fiebriges Tempo, in seinem zweiten Marathon überhaupt.

So hat der deutsche Langstreckenlauf nun schon den zweiten Bringer in diesem sonst so laufarmen Jahr zu vermelden, nach Melat Kejetas Silbermedaille zuletzt bei der Halbmarathon-WM. Und wie Kejeta steht auch Petros für eine Asylpolitik, die nicht nur die Räume begrenzt. Er wuchs in Assab auf, im Südosten Eritreas, 2012 floh er vor dem Krieg nach Bielefeld. Er schaffte seinen Realschulabschluss, wurde deutscher Staatsbürger, fand vor allem übers Laufen in die Gesellschaft, so hat er es oft erzählt. Er habe in Eritrea nie professionell trainiert, aber er profitiert bis heute vom Aufwachsen auf 3000 Metern Höhe und seinem feingliedrigen Körper, 1,81 Meter, 60 Kilo. 2017 gewann er über 10 000 Meter seinen ersten nationalen Straßentitel, vor einem Jahr verpasste er die WM-Norm über 5000 Meter um zwei Hundertstelsekunden. Langstrecke ist eine harte Schule, und Petros nahm oft mehr Erfahrungen mit, als ihm lieb war.

Bei seinem Marathon-Debüt vor einem Jahr - ebenfalls in Valencia - unterbot er die Olympia-Norm (2:11:30) um eine Minute (2:10:29). Aber so richtig begeistert war er nicht von den Schmerzen, die die mythische Langstrecke ihren Absolventen zufügt. Petros liebäugelte für Olympia 2020 schon wieder mit der Bahn; als die Corona-Pandemie alle Ziele hinfort riss, wurde seine Motivation aber erst mal erstickt ("Sogar gewandert bin ich im Teutoburger Wald - dabei bin ich überhaupt kein Wanderer!"). Er fand schleppend zu alter Stärke, bei der Halbmarathon-WM stürzte er; im Trainingslager in Kenia habe zuletzt aber wieder "alles perfekt geklappt".

Seine Entschlossenheit in Valencia hatte allerdings noch einen anderen, düstereren Grund: Zwei Tage vor dem Start hatte Petros in einem langen Statement in den sozialen Netzwerken bekundet, dass er seine Familie, die er einst bei der Flucht zurückgelassen hatte, seit Wochen nicht erreichen könne. Er wolle nun auch für sein Volk laufen, aus der Region Tigray, das derzeit mit Äthiopien wieder Krieg führt. Und an die Adresse von Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed: "Die Welt schaut zu, während ein angeblich demokratischer Präsident heimlich ein ganzes Volk auslöscht."

Die Flucht, die Situation in der alten Heimat: Es sind auch diese Umstände, sagen langjährige Beobachter, die Petros' Mut und Entschlossenheit bis heute befüllen.

Auch Ringer und die Schöneborn-Zwillinge überzeugen

Der Sport mit seinen vermeintlichen Dramen schrumpft da schnell mal auf eine erträglichere Größe. Auch die Odyssee von Philipp Pflieger, der im Vorfeld fälschlicherweise positiv auf Corona getestet wurde, erst spät in Valencia eintraf und die Olympia-Norm in 2:12:15 Stunden verpasste. Richard Ringer deutete bei seinem Debüt in 2:10:56 indes sein Potenzial für den Marathon an. Bei den Frauen hatte Melat Kejeta ihren Start zuletzt abgesagt, dafür überzeugten die Schöneborn-Zwillinge: Deborah steigerte ihre Bestzeit um fast vier Minuten auf 2:26:55, Rabea schaffte bei ihrem Marathon-Einstand gleich 2:28:42. Der deutsche Verband verfügt mittlerweile über ein seltenes Überangebot an Marathonläufern, die mit Olympia-Normen ausgestattet sind: Bei den Männern haben Petros, Hendrik Pfeiffer (2:10:19) und Ringer jetzt die drei deutschen Startplätze für Tokio sicher, bei den Frauen Kejeta (2:23:57), Deborah Schöneborn und Katharina Steinruck (2:27:26). Und im Frühjahr könnten noch einige Kandidaten nachrücken.

Zur ganzen Wahrheit gehört freilich auch, dass mittlerweile fast alle Hersteller neuartige Schuhe im Angebot führen, die das Laufgefühl völlig verändert haben, wie Richard Ringer zuletzt ausgeführt hatte ("Der Schuh pusht dich nach vorn"). Deshalb, so Ringer, könne man "die Zeiten bis 2015 und die danach gar nicht mehr vergleichen". Andererseits machte er auch Arne Gabius für den Aufschwung verantwortlich; der habe den nationalen Mitbewerbern mit seinen Rekordläufen vor einigen Jahren frischen Mut eingeflößt. Für einen der deutschen Startplätze für Tokio 2021 ist Gabius derzeit übrigens rund zwei Minuten zu langsam.

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