Leichtathletik-EM:Bei der Frohnatur fließen Tränen

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Jubel voller Rührung: Gina Lückenkemper in Berlin. (Foto: REUTERS)
  • Bei der Leichtathletik-EM glänzt Sprinterin Gina Lückenkemper mit Silber über 100 Meter.
  • Kugelstoßer David Storl freut sich über Bronze - und ein 10 000-Meter-Läufer aus Deutschland erlebt einen bitteren Moment.

Von Joachim Mölter, Berlin

Jahrelang hatten die Organisatoren der Leichtathletik-EM in Berlin mit den Funktionären des gastgebenden deutschen Verbandes DLV am Zeitplan dieser Veranstaltung getüftelt: Jeden Tag eine Titelchance für einen deutschen Athleten, um das Publikum bei Laune zu halten, das war die Maxime. Am Anfang, dem Dienstag, sollte gleich eine sichere Medaillenbank die Meisterschaften in Schwung bringen, und weil sich der Kugelstoßer David Storl in der Vergangenheit als solche erwiesen hat, wurde sein Finale zu Beginn terminiert.

Wäre ja auch eine schöne Geschichte gewesen, wenn der dreimalige Europameister den vierten Titel nacheinander gewonnen hätte. Das ist noch keinem Kugelstoßer gelungen und überhaupt nur ganz wenigen Leichtathleten, darunter einer Deutschen, der Weitspringerin Heike Drechsler zwischen 1986 und 1998. Drechsler ist auch in Berlin wieder dabei, als freiwillige Helferin. Mit ihren vier Titeln in Serie bleibt sie einzigartig in Deutschland.

Denn der Plan mit der Fortsetzung von Storls Serie ging nicht ganz auf.

Zwar begann der 28 Jahre alte Athlet vom SC DHfK Leipzig den Wettkampf verheißungsvoll mit einem Stoß auf 21,41 Meter. Aber schon im zweiten Durchgang konterten Michal Haratyk mit 21,72 und Konrad Bukowiecki mit 21,66 Metern und sorgten damit letztlich für den zweiten Doppelerfolg von Polens starken Männern an diesem Abend. Zuvor hatten Wojciech Nowicki (80,12) und Pawel Fajdek (78,69) schon im Hammerwerfen die ersten beiden Plätze besetzt.

Bronze nach zuvor drei EM-Titeln in Serie? "Ich freue mich riesig", sagt Storl

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Die 21-jährige Sprinterin Gina Lückenkemper soll nach Robert Harting das Gesicht der deutschen Leichtathletik werden. Bei der Heim-EM will sie zwei Medaillen holen. Um schneller zu werden, leckt sie schon mal an Batterien.

Von Joachim Mölter

Und David Storl, dem entthronten Titelverteidiger, blieb nur die Erkenntnis: "Die Kugelstoßer in Europa haben sich auch weiterentwickelt, es ist nicht mehr so, dass man mit 21,40 Meter ganz entspannt Europameister wird wie das 2014 noch war." Natürlich habe er sich für die heimische EM "ein bisschen mehr" vorgestellt als das, was er am Dienstagabend in die Wertung trug, im Angesicht der starken Konkurrenz beschloss Storl dann aber auch: "Ich freue mich riesig über Bronze."

Die knapp 35 000 Zuschauern im traditionsreichen Olympiastadion erlebten am Ende also einen durchaus verheißungsvollen Beginn für den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV): Denn die 21 Jahre alte Gina Lückenkemper, die wegen ihres munteren Wesens längst als künftiges Gesicht der deutschen Leichtathletik gehandelt wird, erfüllte im 100-Meter-Finale alle Erwartungen. Hinter der großen Favoritin und überlegenen Siegerin Dina Asher-Smith aus Großbritannien, die ihre persönliche Bestzeit auf 10,85 Sekunden steigerte, holte sich die Studentin in 10,98 Sekunden die Silbermedaille; sie verwies dabei die Titelverteidigerin Dafne Schippers aus den Niederlanden (10,99) sowie die hochgewettete Schweizerin Mujinga Kambundji (11,05) auf die Plätze.

Lückenkemper, eine westfälische Frohnatur, hüpfte danach über die blaue Bahn, weinte, ging auf die Ehrenrunde und ließ sich vom Publikum feiern. "Ich habe jede einzelne Sekunde genossen", sagte sie über die knapp elf Sekunden, die sie unterwegs gewesen war sowie die folgende, deutlich längere Ehrenrunde.

Bereits zwei Stunden vorher, im Halbfinale, war sie exakt die gleiche Zeit gerannt und hatte vor der ZDF-Kamera gesagt: "Es war einfach ein geiles Rennen. Ich bin saugeil drauf." Zu ihrer Bestzeit von der WM 2017 in London fehlten nur drei Hundertstelsekunden, angesichts ihrer doch wieder eher mäßigen Reaktionszeiten am Start (0,219 Sekunden im Halbfinale, 0,217 im Endlauf), war eine neue Marke durchaus in Reichweite.

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Gina Lückenkemper ist Deutschlands bekannteste Leichtathletin. Vor dem EM-Start in Berlin spricht die 100-Meter-Läuferin über Versagensängste, Neuro-Athletik und Sprinten in der Hitze.

Aufgezeichnet von Joachim Mölter

Zwei Rennen unter elf Sekunden? "Ich habe jede Sekunde genossen", sagt Lückenkemper

Lückenkempers Mitläuferinnen Tatjana Pinto aus Paderborn (11,26) und Lisa Marie Kwayie aus Berlin (11,36) waren im Halbfinale hängen geblieben; aber zusammen mit der 200-Meter-Spezialistin Rebekka Haase (Erzgebirge) verspricht das eine ambitionierte Staffel am Wochenende zu werden. Da will Lückenkemper ihre zweite Medaille bei dieser EM holen.

Auf eine zweite Chance am Wochenende, im 5000-Meter-Lauf, muss auch der mit großen Hoffnungen in das 10 000-Meter-Rennen gestartete Richard Ringer (Friedrichshafen) setzen. Der 29-Jährige gab nach sechseinhalb Kilometern auf. "Wenn die Beine leer sind, geht halt nichts mehr", erklärte er und ärgerte sich: "Die, die vorne waren, habe ich alle beim Europacup geschlagen." Bei dieser Gelegenheit hatte er im Mai in London in 27:36,52 Minuten die europäische Jahresbestzeit aufgestellt, die nun sogar Gold-Hoffnungen geweckt hatte, bei ihm, beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV), beim Fachpublikum.

Dieses Gold schnappte sich nun der Franzose Morhad Amdouni in 28:11,22 Minuten. Damit bleibt Jan Fitschen der letzte deutsche Europameister auf der längsten Stadionstrecke: Er gewann 2006 in Göteborg in einer ähnlichen Zeit, 28:10,94. Richard Ringer hat sich das Video von diesem Lauf als Jugendlicher oft angeschaut, zuletzt aber nicht mehr, gab er vor der EM zu. Taktisch hätte er sich ja auch nichts abschauen können, er hatte den Rennverlauf und das zunächst schnelle Tempo tatsächlich so prognostiziert. "Es war einfach eine Sache der Beine", sagte er.

© SZ vom 08.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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