Lúcio wechselt zu Inter:Die riskante Bayern-Strategie

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Der FC Bayern lässt seinen besten Abwehrspieler ziehen. Es zeigt sich: In Sachen Experimente steht der neue Trainer van Gaal seinem Vorgänger Klinsmann in nichts nach.

Johannes Aumüller

Vielleicht sollten sich die Bayern-Fans an dieser Stelle noch einmal an die Saison 2008/09 erinnern. Vor allem an die ersten 29 Spieltage dieser Saison 2008/09, als bei den Münchnern noch Jürgen Klinsmann das Sagen hatte - und mit seiner Arbeit viele Fragen und Debatten aufwarf. Wie konnte er nur ständig am taktischen Schema der Mannschaft herumwerkeln? Wie konnte er nur das Risiko eingehen, mit Christian Lell und Massimo Oddo auf der rechten Außenverteidigerposition eine Saison bestreiten zu wollen? Wie konnte er nur ernsthaft glauben, ohne echte Verstärkung und nur mit einer Jeden-Spieler-jeden-Tag-besser-machen-Rhetorik die Champions League gewinnen zu können?

Lúcio verlässt den FC Bayern und wechselt zu Inter Mailand. (Foto: Foto: Getty)

Viele Bayern-Fans hofften, diese und ähnliche Fragen nicht mehr stellen zu müssen, nachdem die Klubbosse im Sommer den renommierten Louis van Gaal als neuen Trainer präsentierten. Als bodenständige Antithese zum experimentierfreudigen Klinsmann nahmen viele den Niederländer wahr - und sehen nun, dass sie sich getäuscht haben.

Denn kaum ist die Saisonvorbereitung und die Arbeitszeit van Gaals beim FC Bayern zwei Wochen alt, tauchen schon wieder diese Diskussionen auf, die so gewaltig an die Jürgen-Klinsmann-Zeit erinnern. An der Kaderkomposition (sieben Zugänge, aber kein Neuer für die Schwachstellen Torwart und Rechtsverteidiger) feilt van Gaal ebenso polarisierend herum wie am System (Umstellung aufs Rauten-Modell) und an der Aufstellung (Versetzung von Lahm auf die rechte Abwehrseite).

Und nun hat der FC Bayern die nächste Entscheidung getroffen, die aufhorchen lässt - und die das Attribut "riskant" durchaus verdient. Die Münchner lassen ihren langjährigen und in der vergangenen Saison besten Abwehrspieler Lúcio zu Inter Mailand ziehen. Der Brasilianer unterschreibt dort einen Dreijahresvertrag, über die Höhe der Ablösesumme machte Uli Hoeneß, der den Wechsel am Donnerstag auf einer Pressekonferenz bekanntgab, keine Angaben. Aus wirtschaftlicher Sicht ist das eine vernünftige Entscheidung: Im kommenden Jahr hätte der dann 32-Jährige ablösefrei gehen können. "Er wollte einen langfristigen Vertrag unterschreiben, aber wir wollten ihm keinen Dreijahresvertrag geben", sagte Hoeneß.

Damit endet ein wochenlanges Gerangel um die Frage, ob der Kapitän der brasilianischen Nationalelf in München bleibt oder nicht. Von Beginn der Van-Gaal-Zeit an musste Lúcio über sich lesen und hören, beim neuen Trainer keine gesetzte Größe mehr zu sein. Vielmehr schien alles auf einen Vierkampf zwischen ihm, Martin Demichelis, Daniel van Buyten und Breno um einen der beiden Innenverteidigerposten hinauszulaufen, während sich um die andere Planstelle der aus Holland gekommene Edson Braafheid und der erst 20-jährige Holger Badstuber duellieren. Der bisweilen von Lúcio gezeigte Übereifer war dem auf taktische Disziplin wertlegenden van Gaal wohl ein Dorn im Auge.

Nun ist es also Gewissheit, dass die neue Bayern-Innenverteidigung ziemlich wagemutig daherkommt. Denn Demichelis spielte im Vorjahr außer Form und Längen schlechter als Lúcio; van Buyten fällt lediglich unter die Kategorie "solide und verlässlich"; Breno gilt zwar als großes Talent, konnte das aber bisher noch nicht beweisen; Braafheid ist erstens kein gelernter Innen-, sondern ein Außenverteidiger und zweitens lediglich 1,76 Meter groß, was ihn nicht gerade für die zentrale Rolle prädestiniert; Badstuber ist erstens auch kein gelernter Innenverteidiger, sondern defensiver Mittelfeldspieler und zweitens ziemlich jung; und dass die Münchner für Lúcio einen neuen Spieler verpflichten, ist eher unwahrscheinlich.

Dazu kommt der Plan, Lahm von der linken auf die rechte Abwehrseite zu ziehen und die linke Außenverteidigerposition mit Braafheid oder Danijel Pranjic zu besetzen, sowie die Tatsache, dass es nach der Verpflichtung von Anatolij Timoschtschuk auch im defensiven Mittelfeld zu Umstrukturierungen kommt. Die Bayern-Defensive 2009/10 hat mit der Bayern-Defensive 2008/09 also nicht mehr viel zu tun.

Das ist erst mal nichts Schlechtes, denn die Bayern-Hintermannschaft 2008/09 stand ja nicht so, wie die Hintermannschaft eines Meisterschaftsanwärters stehen muss. Nun bleibt abzuwarten, ob das die neue Formation eher leisten kann. Und vor allem bleibt abzuwarten, ob diese neue Formation auch geeignet ist, um auf der großen europäischen Bühne mitzuhalten. Es gibt gewiss viele, die das eher skeptisch sehen.

Nicht umsonst war die Personalie Lúcio in den vergangenen Wochen auch klubintern extrem umstritten. Unter anderem Präsident und Aufsichtsratschef Franz Beckenbauer hatte sich für einen Verbleib des 31-Jährigen starkgemacht. "Lúcio ist Kapitän von Brasilien und unser Bester in der Abwehr. Ihn sollten wir behalten", sagte Beckenbauer Ende Juni. Und erst Anfang dieser Woche legte er in einem Interview nach: "Keiner will ihn verkaufen, keiner will ihn los haben. Jeder weiß, wie wichtig er ist." Van Gaal sah das offenbar anders.

Die Bayern-Fans müssen registrieren, dass ihr neuer Trainer mindestens genauso experimentier- und risikofreudig ist wie sein Vorgänger Jürgen Klinsmann. Für den Falle des anfänglichen Misserfolgs ist für genügend Sprengstoff und Debatten schon gesorgt - und da ist die endgültige Entscheidung in der Causa Franck Ribéry noch gar nicht gefällt.

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