Auch Reiten kann gefährlich sein, klar, aber die Sache mit dem Pony hatte ja einen ganz anderen Hintergrund. Lilly Samanski lacht bei dieser Erinnerung, auch wenn der Plan ihrer Familie fast ein wenig hinterlistig war. "Mir wurde ein Pony gekauft, damit ich zum Reiten wechsle", erzählt die 17-Jährige. Damals nämlich, im Vorschulalter, hatte sie gemeinsam mit ihrem Zwillingsbruder das Schlittschuhlaufen gelernt. Weil sie in der Lauflernschule aber einen Tick besser war, habe der Bruder etwas die Lust verloren. Als die kleine Lilly dann ihr Pony hatte, fügte sich für die Familie einiges. Ihr Bruder Noah spielt heute Eishockey an der Akademie in Salzburg, und auch Lilly Samanski gibt nun auf einer Bank am Sportplatz des Gräfelfinger Kurt-Huber-Gymnasiums ein Interview, weil sie so erfolgreich geworden ist - wenn auch nicht im Sattel. Sondern als Leichtathletin.
Auch wie sie dazu kam, ist eine lustige Geschichte, auch die erzählt sie lachend. Und als dieses Treffen stattfindet, kurz vor dem Gräfelfinger Stabhochsprung-Meeting Ende Mai, da ahnt sie noch nicht mal, dass sie bald Dritte der Weltjahresbestenliste ihres Alters sein wird. Jedenfalls berichtet sie nun, wie es sie gefuchst habe, dass es bei Reitturnieren nie recht klappte, wie sie auf Anraten einer Sportlehrerin in Erding bei der Leichtathletik vorbeischaute, und wie man sie dort gleich im ersten Training gefragt habe, ob sie sich Stabhochsprung vorstellen könne. Erst müsse man aber die Eltern fragen, hieß es: "Es kann passieren, dass du dir das Genick brichst."
Diese ungewöhnliche Begrüßung für eine Anfängerin ist nun vier Jahre her.
Die Eltern hatten offenbar keine Bedenken, und so schlägt die selbstbewusste Lilly nun in der Großfamilie Samanski ein bisschen aus der Art. Ihr Vater John kam einst als Eishockeyprofi aus Kanada nach Erding, blieb und trainierte später Eishockeyteams bis zur Oberliga: Erding, Klostersee, Miesbach, Dorfen, Freising. Vier seiner fünf Söhne spielen Eishockey, die ersten sind schon in der DEL angekommen. Einer spielt Basketball. Lillys jüngere Schwester teilt die Reitleidenschaft ihrer Mutter.
Wie die Eltern das immer alles gemanagt haben mit sieben sportbegeisterten Kindern, ist Lilly Samanski ein Rätsel, und wieso man sie damals so spontan Richtung Stabhochsprung lotste, ebenfalls.
Diese Disziplin ist nämlich keine, die ein bestimmtes körperliches Raster voraussetzt - eine Kugelstoßerin oder einen Hochspringer kann man viel leichter mal auf den ersten Blick zuordnen. Im Stabhochsprung kann man zierlich oder muskulös sein, klein oder groß, letztlich sieht Lilly Samanski das täglich im Training. Sie selbst ist großgewachsen, ihre ein Jahr ältere Trainingskameradin Chiara Sistermann fast einen Kopf kleiner. Bei den deutschen Hallenmeisterschaften im Februar hat Sistermann mit ihrer neuen Bestmarke von 4,30 Meter völlig überraschend Platz drei belegt, bei den Erwachsenen, wohlgemerkt. Das sei schon "cool", so jemanden im Training zu haben, an dem man sich orientieren kann, findet Lilly Samanski. Das aber betreffe nur den Weg zum Erfolg, nicht etwa den über die Stange. Denn da muss jeder seinen eigenen finden. "Wir haben viel zu unterschiedliche Hebelverhältnisse und Absprungwinkel, ich kann höher greifen, sie kann schneller drehen."
Noch etwas unterscheidet die beiden. Weil Chiara Sistermann, die gerade eine Knöchelverletzung auskuriert hat, zur Altersklasse U20 zählt, hat sie dort im August eine Weltmeisterschaft vor sich, in Cali, Kolumbien. Lilly Samanski hätte zwar auch für die WM der Älteren die Qualifikationsnorm erreicht, aber sie startet noch in der U18, für die bereits an diesem Montag eine Europameisterschaft beginnt. In Jerusalem, was sie auch ganz spannend findet.
"Sie ist immer noch ein Rohdiamant, auch was die technischen Fähigkeiten betrifft", sagt Trainer Schimmelpfennig
In der aktuellen Form kann sich die Zehntklässlerin, die in München ein Sportinternat besucht, einiges ausrechnen. Die Viermetermarke, für deren erstmalige Überquerung sie 2021 fast eine ganze Saison lang brauchte, hat sie in diesem Jahr gleich zum Auftakt in Wasserburg wieder abgehakt. Das gab ihr Sicherheit. "Man weiß dann, wo man steht, und tappt nicht ewig im Dunkeln", sagt sie. Beim heimischen Touch the Clouds, dem Meeting des TSV Gräfelfing, für den sie inzwischen startet, legte sie Ende Mai mit 3,90 Meter auch offiziell die EM-Norm nach - und vor gut zwei Wochen, als es endgültig um ihr EM-Ticket ging, überquerte sie in Walldorf 4,21 Meter. Für eine solche Höhe muss man doch schon einige Ponys übereinander stapeln. Eine kleine technische Änderung habe gut funktioniert, sie habe sogar noch "Luft nach oben" gehabt, erzählt sie.
Auch wenn es mit der deutschen Bestleistung (4,33) danach nicht mehr klappte, gab es überhaupt erst fünf Deutsche, die in diesem Alter je höher sprangen. Und weltweit eben erst zwei, die das im laufenden Jahr geschafft haben. In Europa ist sie aktuell die Nummer eins - und damit Favoritin bei ihrem ersten internationalen Einsatz.
"Ich glaube, dass sie auch in diesem Bewusstsein hinfliegt", sagt Matthias Schimmelpfennig, ihr Trainer in Gräfelfing. "Aber man weiß nie, was im Wettkampf passiert." Am vergangenen Donnerstag hat er am Flughafen schon mal Samanskis acht Stäbe auf die Reise geschickt, Stabhochspringer sind ja nicht gerade mit kleinem Gepäck unterwegs. In Erding habe man sie damals "sehr behutsam und mit Weitblick aufgebaut", erzählt er. Vor gut zwei Jahren kam sie an den Stützpunkt in Gräfelfing, im Winter vor der Pandemie. "Sie ist immer noch ein Rohdiamant, auch was die technischen Fähigkeiten betrifft", sagt Schimmelpfennig. Sprich: noch immer so neu dabei, dass einerseits sehr viel Entwicklung möglich ist, andererseits die Technik noch nicht in jedem Wettkampf stabil sein kann. Erfolge im Jugendbereich hätten sie eigentlich gar nicht angestrebt.
Lilly Samanski ist ihren Stäben am Freitag hinterhergeflogen. Klar sei sie ehrgeizig, sagt sie am Abend vor ihrer Abreise. Aus ihrer Favoritenrolle wolle sie aber keinen Erwartungsdruck entstehen lassen. Sich keinen Kopf machen, die Quali überstehen, Erfahrungen sammeln, das sind ihre Ziele. "Und Spaß haben!", ergänzt sie fröhlich. Stabhochsprung, das steht längst fest, war sicher nicht die allerschlechteste Eingebung.