Leichtathletik-WM:"Ich will einfach keine Mörder auf der Bahn sehen"

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Jaroslawa Mahutschich gewinnt in Eugene Silber im Hochsprung. (Foto: Kyodo News/Imago)

Ukrainische Leichtathleten wie die Hochspringerin Jaroslawa Mahutschich erinnern daran, dass der Krieg alle Ebenen des gesellschaftlichen Lebens in ihrer Heimat zerstört - und was sie von einer Rückkehr russischer Sportler halten.

Von Johannes Knuth, Eugene

Vor ein paar Tagen saß der 400-Meter-Hürden-Weltrekordhalter Karsten Warholm bei einer Presserunde seines Ausrüsters vor einem Haus, das der Sponsor mit Videokonsolen, einem Tortilla-Buffet und natürlich mit schicken Sportschuhen ausgerüstet hatte. Warholm hatte die vergangenen Wochen mit einem Muskelfaserriss gekämpft, dessen Nachwehen ihn am Dienstag an der Titelverteidigung hindern sollten (der Norweger wurde Siebter, in 48,42 Sekunden). Die letzte Zeit sei für ihn "die Hölle" gewesen, hatte er bei dem Sponsorentermin geklagt - ehe er bemerkte, dass neben ihm Jaroslawa Mahutschich saß, aus Dnipro in der Ukraine. "Ich weiß natürlich nicht", schob Warholm hinterher, "wie die echte Hölle aussieht."

Es gibt gerade zwei Lautstärken bei den Weltmeisterschaften in Eugene, wenn die Leichtathleten aus der Ukraine ins Licht rücken: Sehr laut, wenn sie vor ihren Wettkämpfen vorgestellt werden oder Medaillen gewinnen. Und sehr, sehr leise, wenn sie erzählen, wie es ihnen gerade ergeht, als Botschafter in Spikes, die für ein Land antreten, das gerade Tag für Tag ein bisschen mehr auf der Weltkarte zusammenschrumpft.

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Seit dem 24. Februar, dem ersten Tag des russischen Angriffskriegs, ist kein Tag vergangen, an dem ukrainische Athleten und Betreuer nicht von einer Welle der Hilfsbereitschaft überschüttet werden. Zugleich zogen Fußballer, Tennisspieler, Biathleten in den Krieg. Mahutschich, eine 1,81 Meter große Hochspringerin mit festem Blick, war Ende Februar in ihrer Heimat im Osten der Ukraine von den Bomben aufgewacht, mit denen die Russen den Flughafen attackierten. Sie versteckte sich im Nachbardorf, bei ihrer Trainerin Tetiana Stepanova. Dort trainierten sie in einer Halle, und wenn die Sirenen heulten, liefen sie in den Keller.

Am 6. März setzten sich Mahutschich, ihr Freund, ihre Trainerin und deren Mann in ein Auto, über Moldau (samt fünfstündiger Wartezeit an der Grenze) und Rumänien fuhren sie nach Serbien, drei Tage lang. Kurz darauf gewann Mahutschich in Belgrad Gold bei der Hallen-WM. Sie trug gelb-blauen Eyeliner und gelb-blau lackierte Fingernägel, wie am Dienstag, als sie in Eugene Zweite wurde, hinter der Australierin Eleanor Patterson.

Solidarität: Jaroslawa Mahutschich hält die Erinnerung an den Krieg in der Ukraine wach, der immer mehr im Nachrichtenrauschen verschwindet. (Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

"Ich habe heute die Atmosphäre genossen, den Wettkampf, jeden Sprung", sagte die 20-Jährige. Ob sie die 2,02 Meter nun nicht im ersten Versuch (wie Patterson), sondern im zweiten bewältigt hatte - was zählt das schon gegen eine echte Krise? Nach dem WM-Titel in Belgrad hatten ihr viele Menschen geschrieben, dass sie zumindest einen kurzen Moment Grund zum Lächeln hatten. Das, sagte Mahutschich am Dienstag, habe sie in den vergangenen Monaten immer weiter getragen, auch wenn sie abends oft in ihrem Zimmer saß, weinend.

Nahezu alle 22 ukrainischen WM-Starter brachten zuletzt ihre Geschichten mit, als sie in den Trainingslagern vor der WM aufschlugen, in Herzogenaurach bei Mahutschichs Ausrüster, in der Türkei, in Portugal und Spanien, zuletzt in Chula Vista bei San Diego, einem WM-Camp, das der Weltverband mitfinanzierte. Die Geschichten, sagen viele Athleten, seien gruselig und Motivation zugleich. Iryna Geraschenko, Vierte am Dienstag in Eugene mit persönlicher Bestleistung (2,00 Meter), erzählte, dass sie eine Woche im unbeheizten Keller bei ihren Eltern in Kiew verbracht habe, ehe sie über die Westukraine zur Hallen-WM in Belgrad fuhr. Der Hochspringer Andriy Protsenko, WM-Dritter am Montag, erinnerte sich daran, wie er mit nur einem Rucksack aus seiner Heimat Kherson flüchtete, mit seiner Frau und den Töchtern, fünf Jahre und neun Monate alt. Sobald er im Ausland war, habe er gut trainiert, aber das Material sei ohnehin nie das Problem gewesen. "Das Problem ist es", sagte er, "die Motivation zu finden."

Mahutschich überquert 2,02 Meter - weil sie dafür aber einen Versuch mehr braucht als die Siegerin Patterson aus Australien, gewinnt sie Silber. (Foto: Gregory Bull/AP)

Das ist vielleicht die größte Last - und das größte Verdienst - für eine 20-Jährige wie Mahutschich: die Erinnerung wachzuhalten an diesen Krieg, der für jeden Tag auch ein bisschen mehr im Nachrichtenrauschen versinkt. Mahutschich veröffentlichte in den sozialen Medien zuletzt ein Bild von einem ausgebombten Trainingsgelände in der Heimat. "Unsere jungen Athleten können zu Hause nicht trainieren, keine Wettkämpfe bestreiten", sagte sie in Eugene. Sie bejahte vehement, dass russische Leichtathleten, die wegen endemischen Dopings ohnehin weitgehend gesperrt sind, weiter von Veranstaltungen ausgeschlossen bleiben sollten. Sie erinnerte an Marija Lassizkene, die Tokio-Olympiasiegerin aus Russland, ihre größte Rivalin, die sich in einem Brief an IOC-Präsident Thomas Bach zuletzt beschwert hatte, sie werde ausgeschlossen, weil sie einen russischen Pass habe. "Gleichzeitig stirbt mein Volk, weil wir Ukrainer sind", sagte Mahutschich. "Ich will einfach keine Mörder auf der Bahn sehen. Viele russische Athleten unterstützten diesen Krieg. Es ist unfassbar, dass auch rund 100 unserer Sportler darin gestorben sind."

Athleten werden nach großen Momenten oft gefragt, wohin es sie jetzt zieht, im Sportlerleben muss es immer weitergehen. Mahutschich redete in Eugene von der EM in drei Wochen, und danach, sagte sie, "hoffe ich, dass ich meinen Vater und Großvater zuhause besuchen kann". Um zu erahnen, wie realistisch das ist, musste man nur in ihre tränenerfüllten Augen blicken.

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