Was hatten sie in den vergangenen Jahren nicht probiert, um Mutter Leichtathletik wieder im Gedächtnis der Öffentlichkeit zu verankern. Präsidenten, die gedopte Athleten erpressten und gegen Lösegeld starten ließen - das hatte durchaus Unterhaltungswert, schreckte auf Dauer aber das Publikum ab. Ein wenig familienfreundlicher war es, die Athleten, ob nun freigepresst oder nicht, wie fahrendes Zirkusvolk in die Städte zu schicken, zum Kugelstoßen auf den Marktplatz und Stabhochspringen in den Hauptbahnhof. Eine australische Firma meinte vor ein paar Jahren eine noch fesselndere Geschäftsidee gehoben zu haben, als sie Leichtathleten 150 Meter laufen ließ und Speerwerferinnen lustige Hüte trugen, während sie auf Ziele warfen. Alles verdienstvoll, aber doch chancenlos gegen die Weisheit, auch einfach mal komplett den Ernst der Lage zu ignorieren.
Dreispringerin Yulimar Rojas:Weltmeisterin mit Staatsauftrag
Erst spielte sie Volleyball, ihren Trainer fand sie bei Facebook: Dreisprung-Weltrekordhalterin Yulimar Rojas ist eine ungewöhnliche Sportlerin und bettet ihre Erfolge in einen größeren Rahmen ein - als Hoffnungsspenderin für ihr Heimatland Venezuela.
Ein großes Lob gebührt daher jenem TV-Kameramann, der am Montagabend, bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Eugene, dachte: Wer auf 3000 Meter bloß 28 Hindernisse passiert, plus sieben Wassergräben, der kann ohnehin nicht ganz ausgelastet sein. Mit der Ruhe eines Ornithologen stand er auf Bahn eins, filmte vor sich hin - vielleicht den Fischadler-Horst, der auf dem Gebäude der juristischen Fakultät installiert ist, auf der anderen Straßenseite des Stadions, wie ein geschätzter Kollege zuletzt recherchierte? Die Hindernisläufer, die im Rücken des TV-Menschen heranpreschten, interessierten ihn jedenfalls nur am Rande, und auch die Läufer navigierten um den guten Mann herum wie ein Schwarm Fische um einen Weißstreifendelfin.
Und jetzt? Verdient der Mann selbstredend eine Beförderung. Viel näher kann man den Sport ja gar nicht ans Publikum tragen. Nach SZ-Informationen hat World Athletics, wie sich der Leichtathletik-Weltverband neuerdings nennt, längst eine Kommission eingesetzt, die ausnahmsweise nicht verdienten Ex-Präsidenten und deren innovativen Wertschöpfungsketten hinterherschnüffelt, sondern weitere Innovationen aufgespürt hat. Hindernisläufer werden künftig, der Sicherheit halber, mit Bodycams ausgestattet, sie laufen dabei über große, gegen die Laufrichtung rotierende Hindernisse, und wer herunterfällt, muss sich mit der 1,50 Meter langen Pythonschlange von Stabhochspringerin Sandi Morris herumschlagen.
Das Konzept, Leichtathletik in die Städte zu tragen, lässt sich auch noch aufpeppen: mit Hammerwurf-Zielwerfen in den Marktbrunnen, Stabhochsprung ins Bürofenster des Bürgermeisters und 100-Meter-Sprints zum Sommerschlussverkauf. Auch an neue Märkte muss der Sport stets denken, und wenn sich das finanziell besser ausgerüstete Publikum in St. Moritz, Moskau oder Doha nicht so sehr für Hammerwerfen interessiert, kann es sich, um die Idee eines weiteren geschätzten Kollegen zu aktivieren, noch immer am Hummerwerfen probieren.