Dreispringerin Yulimar Rojas:Weltmeisterin mit Staatsauftrag

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Yulimar Rojas präsentiert nach ihrem Weltmeistertitel, dem dritten insgesamt, die Flagge Venezuelas. (Foto: Andrej Isakovic/AFP)

Erst spielte sie Volleyball, ihren Trainer fand sie bei Facebook: Dreisprung-Weltrekordhalterin Yulimar Rojas ist eine ungewöhnliche Sportlerin und bettet ihre Erfolge in einen größeren Rahmen ein - als Hoffnungsspenderin für ihr Heimatland Venezuela.

Von Johannes Knuth, Eugene

Wie sie die Arme ausbreitet, innehält, klatscht, bis es ihr jeder nachmacht, bis in die hinterletzte Polstersitzreihe im Hayward Field. Wie sie einen spitzen Schrei loslässt. Wie sie sich den Sprung einredet, den sie gleich in die Grube setzen wird. Wie sie über die Bahn prescht, ans "Brett kracht wie Sau", wie die deutsche Dreisprung-Rekordhalterin Kristin Gierisch einmal sagte, mit jedem Abdruck schneller zu werden scheint, mit Beinen, die mindestens 1,50 Meter lang sind. Wie sie dann, sobald sie ihre Weite sieht, schreit und hüpft vor Glück. Da spürt man schon, dass Yulimar Rojas aus Caracas ein bisschen mehr auf den Schultern trägt als die eigenen Ambitionen.

Die Erfolge der 26-Jährigen überstrahlen schon jetzt alles, was ihre Vorgängerinnen je geschafft haben, in Venezuela und überhaupt. Sie gewann 2016 Olympia-Silber, seitdem hat sie keine internationale Meisterschaft mehr verloren, an der sie mitwirkte.

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Sie gewann WM-Gold 2017, das erste in der Leichtathletik für Venezuela, WM-Gold 2019, Hallen-WM-Gold 2020 mit Hallen-Weltrekord (15,41 Meter), Olympiagold vor einem Jahr mit Freiluft-Weltrekord (15,67), noch einmal Hallen-WM-Gold zuletzt in Belgrad, wieder mit Hallen-Weltrekord (15,74). Damals sprang sie genau einen Meter (!) weiter als die Zweitbeste, und auch in Eugene war der Wettkampf nach Rojas' zweitem Versuch im Grunde vorbei: 15,47 Meter, 58 Zentimeter weiter als die Silbergewinnerin Shanieka Ricketts. Sie wäre gerne noch weiter gesprungen, sagte Rojas später, aber im Stadion sei es ein bisschen kalt und windig gewesen.

Erst der Algorithmus eines sozialen Netzwerks gab ihrer Karriere den entscheidenden Dreh

Die Venezolanerin aber spannt das alles ohnehin in einen größeren Rahmen. Ihre Medaillen bedeuten ihr überhaupt nur etwas, hat Rojas einmal gesagt, weil sie wisse, dass sie den Menschen in ihrer gebeutelten Heimat damit Freude bereite: "Ich glaube daran, dass wir wieder aufstehen werden, durch den Sport. Ich finde es großartig, diejenige zu sein, die Alte und Junge ein wenig zum Lächeln bringt."

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Rojas ist mit beidem groß geworden, der Schönheit und Armut ihres Landes. Sie wuchs in Anzoátegui auf, im Nordosten Venezuelas, die Küste dort, sagen manche, gleiche einem 100 Kilometer langen Karibikstrand. Ihre Familie lebte in einem ranchito, einem Haus mit Backsteinen und Wellblechdach. Ihr Vater wollte sie zunächst nicht ins Ausland reisen lassen, mit den Volleyball-Nachwuchsteams, in denen sie herausstach (Rojas ist heute 1,92 Meter groß). Als die Auswahl auseinanderfiel, weil es zu wenige Trainer gab, brachten Talentspäher sie zur Leichtathletik. Rojas probierte zunächst Hoch- und Weitsprung, durfte bald doch reisen. Als sie 2014 das erste Mal im Dreisprung antrat, brach sie den nationalen Jugendrekord, mit 13,57 Metern. Ihre Familie wohnte bald nicht mehr unter einem Wellblechdach.

Am Ende wolle sie erreichen, dass jeder und jede in ihrer Heimat eine kleine Yulimar Rojas in sich entdecke

Und doch gab erst ein Facebook-Algorithmus ihrer Karriere einen wichtigen Dreh. Das soziale Netzwerk schlug ihr eines Tages vor, das Profil von Iván Pedroso zu befreunden, den Weitsprung-Olympiasieger und viermaligen Weltmeister aus Kuba. Rojas schickte ihm eine Nachricht, kurz darauf war Pedroso ihr Trainer. "Schicksal", sagte sie später. Erst Pedroso habe sie, "einen Rohdiamanten", poliert; ohne ihn wäre sie vor sieben Jahren nie aus der geliebten Heimat nach Spanien gezogen, wo die Trainingsbedingungen besser sind, die Wege zu den Wettkämpfen kürzer. Pedroso, sagte Rojas, habe ihr einmal gesagt: "Athleten gehen durch große Schmerzen, um ihre Ziele zu erreichen. Aber wenn du sie dann erreichst, ist es das größte Gefühl der Welt."

Viele Champions spüren in diesem Moment ja oft eine große Leere; sie haben sich so sehr für diesen Moment abgerackert, dass sie vergessen, die Aussicht auf dem Weg dorthin zu genießen. Aber wer eine Nation in der Brust trägt, wie Rojas, sieht das wohl anders. Am Ende wolle sie erreichen, dass jeder und jede in ihrer Heimat eine kleine Yulimar Rojas in sich entdecke. Dann sagt sie Sätze wie: "Wir brauchen mehr Vorbilder, die wissen, was Entschlossenheit bedeutet. Die sich jeden Tag verbessern wollen." Oder: "Jeder kann seinen Traum erreichen, wenn er wirklich daran glaubt."

In ihrer eigenen Welt: Wenn eine Springerin bis auf einen halben Meter an Yulimar Rojas herankommt, ist das schon eine bemerkenswerte Leistung. (Foto: Andrej Isakovic/AFP)

Ob das die Lösung für ein zerrüttetes, vom Sozialismus geprägtes Land ist: Motivationsreden, die aus einem US-Kurs für Selbstverbesserung stammen könnten? Dafür wirken Venezuelas Probleme vielleicht doch ein klitzeklein wenig zu groß. Jahrelang versenkte die Politik den Öl-Wohlstand des Landes in Korruption und Misswirtschaft, Benzin ist knapp, viele Menschen können sich kaum noch Essen kaufen, die Corona-Pandemie überschüttete diesen Flammenhaufen noch mit Benzin. Sechs Millionen Menschen sollen allein seit 2015 aus dem Land geflohen sein.

Rojas versucht, mit ihren Mitteln dagegenzuhalten. Wenn sie in der Heimat ist, verteilt sie Sportschuhe an Kinder in den armen Nachbarschaften, in denen sie aufwuchs. Sie setzt sich für die Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, Transgender- und Queer-Menschen ein, auch nicht selbstverständlich in einem katholisch geprägten Land. Am wichtigsten sei es, demütig zu bleiben, findet sie, "sonst werden die Leute niemals sehen, welcher Mensch du jenseits all der Medaillen bist". Auch das ist keine Selbstverständlichkeit in einem Geschäft, in dem manche Athleten sich irgendwann selbst spielen, anstatt sie selbst zu sein.

Rojas wird jedenfalls nicht aufhören, ihren Landsleuten zumindest ein wenig emotionale Wärme in die Heimat zu schicken. Man hat das Gefühl, dass sie ihr Können (und ihren ganzen, langen Körper) gerade erst ausfährt, dass Geschwindigkeit und Sprungkraft erst allmählich ineinanderfließen. Sie trainiere hart, um irgendwann die 16 Meter zu springen, sagte sie in Eugene - ein irres Vorhaben, wenn man bedenkt, dass der alte Weltrekord aus der tiefsten Anabolika-Ära stammt. Aber man kann auch nur schwer widersprechen, wenn Yulimar Rojas sagt: "Ich bin noch jung, ich kann noch so viel erreichen." Für sie und ihr Land.

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