Leichtathletik-WM:"Es gibt Athleten, die sind übernervös"

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Walter Wölfle, Teampsychologe des DLV, über Teamgeist im Einzelsport, den Umgang mit Erwartungen und das Phänomen Usain Bolt.

Thomas Hummel

Diplom-Psychologe Walter Wölfle, 52, aus Memmingen im Allgäu gehört seit 2003 dem engen Zirkel der Sportpsychologen beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) an. Zusammen mit zwei Kollegen betreut er bei dieser Weltmeisterschaft in Berlin alle 90 deutschen Sportler sowie ihre Trainer.

Für den Sportpsychologen Walter Wölfle gibt es bei der Heim-WM der deutschen Leichtathleten wegen der hohen Erwartungen viel zu tun. (Foto: Foto: DLV)

SZ: Herr Wölfle, ein Motto von ihnen lautet: Emotionen nutzen für Leistung. Haben Ralf Bartels, Nadine Kleinert und Jennifer Oeser, die alle mit persönlichen Bestmarken Medaillen errangen, das beherzigt?

Wölfle: Sie hatten jedenfalls unmittelbar vor dem Wettkampf die Einstellung: Ich bin bereit, ich kann das schaffen - dieses Wissen war sehr wichtig. Ob das für eine Medaille reicht, ist da erstmal zweitrangig. Die Emotionen der Zuschauer können dich dann weitertragen, um noch einen Tick mehr herauszuholen.

SZ: In der Leichtathletik kämpft jeder für sich. Haben die Erfolge dennoch Wirkungen auf den Rest des Teams?

Wölfle: Leichtathletik bleibt Einzelsport. Auf der anderen Seite ist der Faktor Teamgeist wichtig, gerade bei großen Veranstaltungen mit neun Wettkampftagen. Wenn im Team gute Beziehungen herrschen, haben Erfolge von Kollegen eine starke Wirkung. Das darf man nicht unterschätzen. Andersherum genauso: Fehlen die Medaillen, kommt ungemeiner Druck auf. Es heißt dann: Irgendjemand muss es jetzt machen. Der Fokus auf Medaillen wird natürlich von außen sehr stark hereingetragen.

SZ: Spüren Sie denn eine heitere Stimmung im Team?

Wölfle: Durch den guten Beginn ist alles sehr positiv. Wir haben einen guten Geist. Am Montag aber hat man gesehen, wie schnell es anders werden kann.

SZ: Noch ein Motto von ihnen: Mental fit sein auf den Punkt. Gerade für Leichtathleten sehr wichtig.

Wölfle: Der Weg dorthin kann unterschiedlich sein: Einigen Athleten haben wir empfohlen, einmal ins Stadion zu gehen und sich klar zu machen, was auf sie zukommt: um auch die Abläufe schon mal durchzugehen, die Wege.

SZ: Welchen Sportlern raten Sie das?

Wölfle: Gerade unerfahrenen Athleten, die noch nie die Anforderungen einer WM erlebt haben.

SZ: Noch dazu einer WM im eigenen Land...

Wölfle: ... wo ein enormer Zuschauerzuspruch auf sie zukommt. Das kann sehr unterstützend sein, sehr viel Energie freisetzen. Wie bei Jennifer Oeser (Silber im Siebenkampf, Anm.d.Red) nach dem Sturz im 800-Meter-Lauf. Sie hatte natürlich die Power, aber die Zuschauer gaben ihr einen enormen Schub.

SZ: So viel Aufmerksamkeit kann aber auch belastend sein.

Wölfle: Das positiv zu nutzen, ist kein Selbstläufer. Wenn sich jemand nicht klarmacht, was auf ihn zukommt, dann kann das schiefgehen. Man verliert die Konzentration, was gerade bei technischen Disziplinen schwer wiegt.

SZ: Kann man einen Auftritt vor 40.000 Zuschauern überhaupt simulieren?

Wölfle: Man kann es mental durchspielen: Wie sieht das aus? Wie fühlt sich das an? Wie erlebst du das, wenn du dir das vorstellt? Da hilft es, einmal im Stadion gewesen zu sein. Aber man kann es nicht Eins-zu-Eins abbilden.

SZ: Was können Sie jetzt während der Wettkämpfe noch tun?

Wölfle: Wir greifen nur ein, wenn sogenannte Störfelder auftreten. Wenn etwa eine Verletzung medizinisch kein Problem darstellt, der Sportler damit aber trotzdem nicht zurechtkommt. Oder wenn sich ein Athlet in der Qualifkation sehr beeindrucken ließ, weil die Konkurrenz super drauf war.

SZ: Bundestrainer Jürgen Mallow sprach davon, die jüngere Generation habe Spaß am Wettkampf und nehme die Herausforderung an.

Wölfle: Es gibt junge Athleten, die sind mit gutem Selbstvertrauen ausgestattet. Sie gehen die Sache mit Freude an und sind trotzdem auf den Punkt konzentriert und leistungsfähig.

SZ: An wen denken Sie?

Wölfle: Zum Beispiel Hochspringer Raul Spank, Hürdensprinterin Carolin Nytra, Weitspringer Sebastian Bayer. Sie treten unbelastet in die Öffentlichkeit. Im DLV-Team gab es mit dieser Generation sicher einen Ruck.

SZ: Nach der Enttäuschung bei Olympia 2004 beschloss der DLV einen Neubeginn. Spielt seitdem die Sportpsychologie eine größere Rolle?

Wölfle: Wir wurden besser integriert ins Gesamt-Trainingskonzept. Auch die Zusammenarbeit mit den Trainern ist besser geworden.

SZ: Sie arbeiten auch mit den Trainern?

Wölfle: Oft mehr als mit den Athleten. Es ist wichtig, dass die Trainer die richtigen Worte finden, den Zugang zum Athleten oder auch den nötigen Abstand. Wenn ein Trainer zuversichtlich und entspannt ist, überträgt sich das auf den Athleten. Doch genauso umgekehrt: Ist er nervös und aufgeregt wirkt das subtil auf den Sportler.

SZ: Dennoch gab es vor einem Jahr in Peking einen herben Rückschlag für den DLV.

Wölfle: Davor ist man nicht gefeit. Dort hat die Mannschaft sicher schlechter abgeschnitten (eine Bronzemedaille, Anm.d.Red.), als ihr Leistungsvermögen war.

SZ: Es hieß, die Sportler waren der Situation nicht gewachsen?

Wölfle: Einige waren wohl überfordert mit dem Umfeld, dem Druck. Im Laufe der Tage ist dieser Druck immer größer geworden, weil keine Erfolge da waren. Doch wir wussten auch: Bei der WM in Osaka 2007 war noch alles gut (sieben Medaillen, Anm.d.Red), da konnte jetzt nicht alles schlecht sein.

SZ: Was geht schief, wenn das Vermögen da ist, das Ergebnis aber nicht?

Wölfle: Allgemein gesprochen: Es gibt Athleten, die sind übernervös. Andere können sich selbst nicht richtig einschätzen, werden vordergründig zu cool.

SZ: Hammerwerferin Betty Heidler, in Osaka Weltmeisterin, in Peking früh ausgeschieden, meinte bald darauf, sie bräuchte einen "neuen Kopf", um wieder weit werfen zu können.

Wölfle: Das habe ich auch gehört.

SZ: Hat sie nun einen neuen Kopf?

Wölfle: Ich nehme die Aussage als Zeichen, dass es sich manche Athleten nicht erklären konnten, was da passiert ist. Es war von Betty wohl ein Versuch, das Geschehene in Worte zu fassen, die genauen Gründe aber bleiben kaum greifbar.

SZ: Haben Sie bei der Vorbereitung zur WM in Berlin etwas verändert?

Wölfle: Das kann man insofern nicht vergleichen, weil im eigenen Land ein gewohntes Umfeld herrscht. Dazu sind die Athleten des Ausrichters wieder einem ganz anderen Druck ausgesetzt.

SZ: Dennoch scheint es bei einigen gut zu funktionieren.

Wölfle: Die Fokussierung auf die Heim-WM hat sehr frühzeitig begonnen. Für viele Athleten war Berlin vielleicht unbewusst schon lange wichtiger als Peking. Eine Heim-WM erleben die Athleten nur ein Mal.

SZ: Vielleicht erlebt man auch nur ein Mal einen Usain Bolt.

Wölfle: Ich merke, dass ich das Interesse eher verliere. Die Leichtathletik braucht die Show, die Emotionen und die verrückten Typen. Aber die 100 Meter sind medial so hochgepusht, da geht mir auch was verloren.

SZ: Wie schätzt der Psychologe das Phänomen Bolt ein. Kann man von ihm irgendwas lernen?

Wölfle: Auf jeden Fall: Diese Lockerheit, die die Amerikaner eigentlich immer gezeigt haben, in den Wettkampfpausen auch mal zu entspannen. Aber konkret beim 100-Meter-Lauf fehlen mir eher die Worte, ich kann das nicht bewerten. Ich finde das irgendwie ein bisschen irre, als wäre es gar nicht ernst. Dazu diese enormen Leistungen. Das ist schwer greifbar. Das ist eine Mischung aus Verblüffung und Irritation.

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