Leichtathletik:Lust aufs Fliegen

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Tropfnass und glücklich: Tobias Potye vor neun Monaten nach dem Gewinn seiner EM-Silbermedaille. (Foto: Gladys Chai von der Laage/Imago)

Neun Monate nach der Heim-EM hat für die Münchner Leichtathleten der Alltag wieder begonnen. Trotzdem bringt das Ludwig-Jall-Sportfest Erinnerungen an große Momente zurück.

Von Andreas Liebmann

Ein Blick genügte, und in Tobias Potyes Kopf tauchten all die Bilder wieder auf: Gewitterguss. Bebendes Olympiastadion. Deutschland-Fahne. Neun Monate ist es her, seit der Münchner Hochspringer Silber gewann bei den Heim-Europameisterschaften; seit er gemeinsam mit dem italienischen Olympiasieger Gianmarco Tamberi und dem Ukrainer Andrij Prozenko vor euphorisch lärmenden Zuschauern den schwierigsten Bedingungen nach einem Wolkenbruch trotzte und sich in einem hochspannenden Wettkampf mit übersprungenen 2,27 Metern zwischen den Rivalen einreihte. Sein Happy End bei jenem Großereignis, auf das er mindestens drei Jahre lang hingearbeitet und -gefiebert hatte.

Nun stand Tobias Potye also im Münchner Dantestadion - und vor ihm lag eine dunkelblaue Hochsprungmatte mit dem Logo MUNICH 2022, vermutlich exakt die, auf der er damals gejubelt hatte. "Ich musste sehr schmunzeln", sagte er und verriet, dass er schon eine Original-Wettkampflatte von den Championships ergattert hat.

Der Alltag hat sie nun alle wieder, die Teilnehmer wie die Zuschauer von damals. Für die bayerische Leichtathletik waren jene Tage vor neun Monaten ja mindestens ein Sommermärchen, aber am Samstag, beim 36. Ludwig-Jall-Sportfest des PSV München, bebte das alte Dantestadion natürlich nicht. Rund um die Betonränge hatten sich Athleten und Angehörige zu einer Art Familientreffen verstreut, auch wenn dieses Meeting zum Start der Freiluftsaison traditionell durch die Verpflichtung einiger internationaler Teilnehmer aufgewertet wird.

Tobias Potye selbst kam nicht in den Genuss eines solchen "Topwettbewerbs". Er begann eigentlich erst dort zu springen, wo seine wenigen Mitbewerber bereits ausschieden. Lust auf seine One-Man-Flugshow verspürte der 28-Jährige trotzdem - und hörte gelassen darüber hinweg, dass die richtige Betonung seines Nachnamens selbst in der Heimat Probleme aufwarf.

Aufhören oder dem gewohnten Umfeld entfliehen: Das waren die Optionen für Christina Hering

Auch für Christina Hering, die im Olympiastadion das 800-Meter-Finale erreichte, war es der erste Wettkampf in ihrer Geburtsstadt seit der Heim-EM. Für sie hatten die Veranstalter Micha Powell als Konkurrentin geholt, die Tochter des kanadischen Weltrekord-Weitspringers Mike Powell. Über 400 und 200 Meter maßen sich die beiden, auf der längeren Strecke verlor Hering nur knapp einen packenden Zieleinlauf. Sehr zufrieden sei sie mit dem Rennverlauf, sagte sie danach; etwas weniger mit der Zeit (53,83 Sekunden), die sie dem Gegenwind beim Finish zuschrieb.

Hering, 28, ist im Winter nach Berlin gezogen, schloss sich dort einer Sprintgruppe um Trainer Sven Bugel und 400-Meter-Läuferin Alica Schmidt an und verzichtete auf die Hallensaison. Sie habe das Gefühl, dass die neuen Reize anschlagen. Sie lebt nun in der Nähe des Alexanderplatzes, erzählte sie, und dass sie genau das gefunden habe, was sie gesucht hatte: Sie habe rausgewollt aus der Stadt, aus dem gewohnten Umfeld, "aus dem Stadion, in dem ich zehn Jahre trainiert hab". Auch aufzuhören sei nach dem Höhepunkt 2022 "eine Option gewesen", erläuterte sie, "aber dafür war die Leidenschaft noch zu groß".

In einem weiteren Topwettbewerb wurde Vincente Graiani von der LG Stadtwerke München Zweiter (400m), in einem anderen - dem 100-Meter-Sprint - siegte sein Vereinskollege Yannick Wolf, in der Meeting-Rekordzeit von 10,30 Sekunden. Wolf wäre vor neun Monaten auch ein Kandidat für die Championships gewesen, doch nach allerlei Blessuren war er dann nur einmal zum Zuschauen im Stadion. Nun peilt er eben die anstehende WM in Budapest an. Zeitgleich Zweite wurden am Samstag seine Vereinskollegen Raffieu Deen Johnson und Fabian Olbert, der nach längeren Krankheitsproblemen wieder angreift.

Potye übersprang 2,20 Meter. Beim ersten Fehlversuch über 2,24 habe er einen leichten Krampf gespürt, hätte vernünftigerweise "sofort aufhören müssen", probierte es aber weiter - die Lust am Wettkampf war zu groß. Etwas Schlimmeres ist wohl nicht passiert. Sein Aufbau, sagt er, sei besser als vor einem Jahr, nun müsse er eine der nächsten Gelegenheiten nutzen, um wirklich "ins Fliegen" zu kommen. "Ab jetzt geht es im Wochentakt einmal um die Welt."

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