Leichtathletik-EM:Tränen auf dem Podest, Getrommel auf der Tribüne

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Sichtlich bewegt: Kariem Hussein holt Gold für die Schweiz. (Foto: REUTERS)

Die Stimmung bei der Leichtathletik-EM ist eher verhalten. Dann gewinnt der Schweizer Kariem Hussein über 400 Meter Hürden, das Stadion tobt. Am Tag danach sind die Lücken im Letzigrund jedoch wieder groß - was wohl auch an den 150 Euro liegt, die ein Tagesticket kostet.

Von Johannes Knuth, Zürich

Das Publikum im Letzigrund sang einfach weiter. Sang an gegen die Band, die sie im Züricher EM-Stadion jeden Abend auffahren nach der letzten Siegerehrung. Doch dieses Mal hatte die letzte Siegerehrung des Tages Kariem Hussein gehört.

Der Schweizer war gerade für seine Goldmedaille über die 400 Meter Hürden geehrt worden, und das heimische Publikum wollte den Helden des Abends jetzt schon noch ein wenig hochleben lassen. Also sangen sie einfach weiter.

Es war der erste emotionale Abend bei dieser Leichtathletik-EM, was auch damit einherging, dass es der Abend der Schweizer war: erste Medaille der EM, erste Freudentränen auf dem Podest, das erste Gold, das fünfte überhaupt in der Schweizer Leichtathletik-Historie.

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Von Johannes Knuth

Als sie die Hymne spielten, weinte Hussein, der Schweizer Medizinstudent, dessen Vater vor rund 30 Jahren aus Kairo in die Schweiz gekommen war. "Ich habe alle meine Emotionen in dieses Rennen gesteckt", sagte er später. Vor dem Rennen war ihm speiübel gewesen, jetzt fiel alles ab.

Hohe Ticketpreise, selten gute Stimmung

Das galt in gewisser Weise auch für das Züricher EM-Publikum, das zum ersten Mal jene Stimmung entfachte, die sonst für gewöhnlich das berühmte Weltklasse-Meeting im Letzigrund begleitet. Die Zuschauer trommelten gegen die Banden, begleiteten jeden Sprung, jeden Wurf, sogar die italienische Nationalhymne mit rhythmischen Klatschen.

In den Tagen zuvor war die Stimmung seltsam schleppend gewesen, Barbora Spotakova, Speerwurf-Olympiasiegerin und erprobt in diversen Zürich-Meetings, hatte gerätselt: "Seltsam. Es wirkt wie ein anderer Ort auf mich, ich erkenne ihn nicht wieder." Hinzu kamen merkwürdige Messfehler, missmutige Athleten, die mit der neu ausgelegten, knochenharten Kunststoffbahn zu kämpfen hatten, die sich bei Regen in eine Rutschbahn verwandelte. Und: das 20 000-Zuschauer-Stadion wurde nicht voll, durchaus verständlich bei Ticketpreisen um die 150 Euro - pro Tag.

Nach dem Hoch am Freitag klafften am Samstag auf den Tribünen wieder viele Lücken, anscheinend hat der eine oder andere Sponsor seine Karten nicht genutzt. Nach allem, was man aus dem europäischen Verband (EAA) hört, sind sie nicht unbedingt angetan über die Preispolitik der Veranstalter.

Am Freitag war das egal, Freitag war der Tag der Schweizer. Groß war der Jubel für Mujinga Kambundji, Schweizer Sprinterin mit kongolesischen Wurzeln, die über 200 Meter in 22,83 Sekunden Fünfte wurde, mit Landesrekord. Und dann war da ja noch der Auftritt von Kariem Hussein.

Hussein startete prächtig in das Finale über die 400 Meter Hürden. Das Publikum tobte, mit jedem Meter, den Hussein zurücklegte, schwoll der Lärm an. Für einen Moment hielt das Publikum inne, kurz bevor Hussein auf die Zielgerade einbog. Dann kam der 25-Jährige um die Ecke, er führte. Das Stadion ließ einen spitzen Schrei los. Hussein stolperte an der letzten Hürde, er rettete sich ins Ziel, irgendwie. Gold in 48,96 Sekunden, zum ersten Mal hatte er die 49-Sekunden-Marke unterboten, eine brillante Zeit für Temperaturen um die 14 Grad.

"Unser Gold-Pharao!", jubelte Blick - jenes Blatt, das in Zeiten von Abstimmungen über einen Einwanderungs-Stopp in der Schweiz schon einmal gefragt hatte, ob das Land nicht "overcrowded" sei. "Gold, als wäre nichts dabei", titelte derweil der Tagesanzeiger etwas nüchterner, wenn auch in Bezug auf eine Ausdauersportart nicht ganz unverfänglich.

Unbestritten ist, dass Hussein über erstaunliche Anlagen verfügt. Als 19-Jähriger stellte er sich bei einem Schulsportfest vor, er hatte kaum Leichtathletik-Vorbildung - und sprang 2,01 Meter im Hochsprung. Zuvor hatte er Fußball gespielt, er hatte es bis in die zweite Liga geschafft, doch mit 20 stellte er fest, dass es vielleicht nicht reichen könnte. Sein Herz hing nicht am Fußball, also wurde Hussein halt Leichtathlet, allerdings ein spätberufener. "Ich wollte immer Leistungssport machen", sagte Hussein Anfang Juni beim Meeting in Regensburg, "egal in welchem Sport".

Spätberufene sind nicht verschlissen

Seine Trainer probierten alle Disziplinen mit ihm aus. Hussein stellte fest: "400 Hürden ging gut." 2009 lief er zum ersten Mal bei einer Meisterschaft, vier Mal wurde er Schweizer Meister, 2012 qualifizierte er sich für die Olympischen Spiele, musste aber verletzt passen. Nun der EM-Titel, sechs Jahre nach seinem Einstieg in den Sport, womit Hussein in Zürich eine alte These belebte: dass auch Spätberufene in der anspruchsvollen Leichtathletik sehr erfolgreiche Karrieren erleben können, zumindest in manchen Disziplinen.

Spätberufene sind nicht verschlissen, wie es wegen früher Spezialisierung im Nachwuchsbereich gerne einmal vorkommt. Sie gewinnen keine Nachwuchstitel, haben dafür aber oft mehr Kraft übrig, im Erwachsenenbereich erfolgreich zu sein. Sie sind älter, aber "trainingsjung", wie Hussein sagt. Die 400 Meter Hürden könne man auch noch mit 30 laufen, glaubt er: "Das beste Leichtathletik-Alter, das kommt erst noch." Zuletzt gewann Félix Sánchez aus der Dominikanischen Republik in London olympisches Gold über die Langhürden. Er war damals 34.

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