Leichtathletik-EM:Lückenkemper genießt, was anderen weiche Knie bereitet

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Gina Lückenkemper war froh über EM-Silber in Berlin - sie freute sich sichtlich. (Foto: Stephen Pond/Getty Images for European Athletics)
  • Im Finale über 100 Meter läuft Gina Lückenkemper vor allem gegen Ende eines ihrer besten Rennen.
  • Dass sie EM-Silber gewinnt, überwältigt sie - es fließen Tränen, ehe die junge Deutsche ihre Schlagfertigkeit wiederfindet.

Von Saskia Aleythe, Berlin

Wie Gina Lückenkemper EM-Silber gewonnen hatte, musste sich Gina Lückenkemper erst mal nacherzählen lassen: "Ich weiß von dem Rennen gar nichts mehr", sagte sie am Dienstagabend in Berlin, eingehüllt in die deutsche Fahne. Sie hatte sie nicht mehr abgelegt, seit sie damit die Ehrenrunde im Stadion gedreht hatte und all die Eindrücke und Emotionen hatten ihre Erinnerung an die 10,98 Sekunden ausgelöscht.

"Das Letzte, was ich von dem Rennen noch weiß, ist, dass jemand im Stadion 'Lückenkemper' gebrüllt und ich mir gedacht habe: Yeah!'", berichtete sie, "das Nächste, was ich noch weiß, ist dann, wie ich über die Ziellinie gelaufen bin und gedacht habe: Bitte macht, dass es noch gereicht hat." Und als auf der Anzeigetafel neben der zwei die deutsche Flagge aufleuchtete, machte sie ikonische Hopser über die Rennbahn, die auch in einem Werbefilm für das Erfüllen von Träumen auftauchen könnten.

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Gina Lückenkemper redet gerne, nach so einem Rennen noch lieber, "sonst noch jemand, anyone?" rief sie über eine Stunde nach ihrem Rennen durch die Interviewzone, um sich zu vergewissern, dass auch wirklich jeder seine Fragen losgeworden ist. Das Wort "geil" war zu diesem Zeitpunkt sehr oft gefallen, auch in den Variationen "brutalgeil" und "megageil".

Nur die Britin Dina Asher-Smith war an diesem Abend schneller als die 21-Jährige gewesen, Lückenkemper hatte ihre eigene Bestzeit von der WM im Vorjahr um drei Hundertstelsekunden verpasst. "Ich bin einfach nur glücklich", sagte sie, die 2016 über 200 Meter EM-Bronze geholt hatte, "ich habe eine Silbermedaille bei einer Europameisterschaft und die kann mir keiner mehr nehmen." Und dann mischten sich unter die ganzen "geils" ein paar Tränchen.

Schon nach ihren Hopsern durchs Stadion war sie weinend auf den Boden gesunken, auf ihren Siegerfotos gibt es nun feuchte Wangen. Immer wieder kamen Momente zum Vorschein, in denen die Stimme zittrig wurde. "Natürlich fällt da auch Spannung von einem ab. Dieser Druck, sich eigene Träume zu erfüllen", aber am Stadion mit der ungewohnten Kulisse von 34 000 Zuschauern lag es nicht, versicherte sie, dass sie in diesen Situationen die Nerven behalten kann, hat sie früher schon bewiesen. "In so ein Stadion reinzukommen, wo alle einem nachbrüllen: Das ist brutal geil. Mega. Mega geil." Sie genießt das, was vielen anderen weiche Knie bereitet.

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Was nicht bedeutet, dass alles einfach von selber läuft, Lückenkemper berichtet auch von Tagen, an denen sie manchmal gar nicht trainieren kann, weil der Kopf nicht mehr mitspielt. "Von der psychischen Belastung ist es manchmal arg viel", sagte sie und erzählte von ihrem "vierbeinigen Mentaltrainer", ihrem Pferd Picasso. "In den Stall zu fahren und zu wissen: Dem Pferd ist es scheißegal, was ich mache, dem Pferd ist es scheißegal, wer ich bin", das ihilft ihr. "Der ist einfach froh, wenn ich da bin und Zeit mit ihm verbringe", sagt sie, und so eine Beschreibung hört bei Lückenkemper selten ohne Pointe auf: "Und außerdem gibt er keine Widerworte."

An ihrer Reaktionszeit hat sie in der Vorbereitung auf die EM besonders gearbeitet, sie war schon immer ihre Schwachstelle - die sie dann auch im Finale nicht abstellen konnte. Sie kam am langsamsten aus dem Block, konnte den Nachteil aber ab der Hälfte des Rennens wieder wettmachen und spurtete schließlich an der ehemaligen Europameisterin Dafne Schippers aus den Niederlanden vorbei, mit winzigem Vorsprung von einer Hundertstelsekunde.

Was ihr mit einem besseren Start wohl gelungen wäre? Darüber will Lückenkemper gar nicht philosophieren, sie nimmt es als Chance für die Zukunft: "Dann wissen wir: Hey, da ist noch Potenzial." Und überhaupt findet sie ja, mit Hinblick auf die WM 2019: "Wenn ich es jetzt an einem Abend zwei Mal unter elf Sekunden schaffe, wer weiß, wie es dann nächstes Jahr läuft?" Schon im Halbfinale war sie 10,98 Sekunden gelaufen.

In der ewigen Bestenliste ist eine Zeit unter elf Sekunden bisher nur sechs anderen deutschen Frauen gelungen, alle stammen aus dem ehemaligen Sportsystem der DDR. "Ich bin der Meinung, es sollte zwei geführte Listen geben", sagte Lückenkemper nun in Berlin, "eine mit den Starterinnen aus der DDR und eine Liste mit Sportlerinnen, die nicht des Dopings überführt wurden."

Wie sie ihren Abend nun verbringen werde, wurde sie noch gefragt. "Mit Dopingkontrolle und dann versuche ich zu schlafen, aber das wird dauern", sagte sie, "mein Kopf wird einiges zu verarbeiten haben." Um ein Uhr nachts schickt sie per Instagramstory ein Bild von sich, auf dem Bordstein sitzend, vorm Stadion. "Still here", schrieb sie dazu, mit Schnutengesicht, ein bisschen resigniert. Schon für 8.30 Uhr am Mittwochmorgen ist die nächste Pressekonferenz anberaumt. Der Druck steigt.

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