Krawalle beim EM-Spiel Polen vs Russland:Manchmal zieht die Polizei in eine Schlacht

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Die polnische Polizei kennt von den Ligaspielen im Land heftigere Ausschreitungen als die im Rahmen des EM-Gruppenspiels zwischen dem Gastgeber und Russland. Sie war auf die Keilereien vorbereitet. Die Mehrzahl blieb im Wissen um gegenseitige Vorbehalte aber friedlich und freundlich - viele Polen schämen sich sogar.

Thomas Urban

Wieder einmal gehen die Meinungen mancher ausländischer Berichterstatter und der polnischen Kommentatoren weit auseinander: Die einen reden von "Straßenschlachten" und "schwersten Ausschreitungen" in den Stunden vor und nach dem hochemotionalen Gruppenspiel der Gastgeber gegen die russischen Gäste am gestrigen Dienstag.

Polnische Polizisten positionieren sich nach dem Spiel im Warschauer Nationalstadion. (Foto: dpa)

Die anderen aber meinen, etwa 200 Festnahmen und 20 Leichtverletzte seien doch wenig angesichts der Tatsache, dass in Warschau mehr als 200.000 polnische und geschätzte 30.000 russische Fans unterwegs gewesen seien. Die polnischen Medien verweisen darauf, dass dies in etwa auch der Bilanz während des ebenfalls emotionsgeladenen Dortmunder Spiels Deutschland - Polen während der WM 2006 entspreche.

Im Übrigen ist man in Polen auch anderes gewöhnt. Wenn etwa die Lokalrivalen Legia und Polonia Warschau oder Cracovia und Wisla Krakau aufeinandertreffen, muss die Polizei manchmal wirklich in eine Schlacht ziehen.

Das Innenministerium in Warschau kündigte am Mittwochmorgen weitere Festnahmen an. Drei Viertel der bislang Festgenommenen sind Polen. Man habe an vielen Stellen in der Stadt das Geschehen gefilmt, ein Teil der Schläger sei polizeibekannt. Dass es letztlich nur zu einigen Scharmützeln vom Ausmaß einer Wirtshauskeilerei kam, war nicht nur der gut aufgestellten Polizei zu verdanken, sondern auch der überwältigenden Mehrheit der Fans, die friedlich eingestellt war und im Wissen um die gegenseitigen Vorurteile und Vorbehalte sich auch freundlich gab.

So hatten sich in den Nachmittagsverkehr, als nicht Tausende, sondern Zehntausende von Wagen mit weiß-roter Beflaggung auf dem Heimweg waren, immer mehr Autos gemischt, deren Fahrer die russische Trikolore aufgesteckt hatten. Man hupte sich freundlich zu, polnisch-russische Zwischenfälle im Straßenverkehr oder gar Karambolagen wurden nicht registriert.

Auch die Bewachung der russischen Botschaft, eines düsteren und pompösen Trutzbaus aus der Stalinzeit, schreckte Randalierer ab: Außer einer Gruppe von meist älteren Anhängern des früheren Präsidenten Lech Kaczynski, der vor zwei Jahren bei einem Flugzeugabsturz unweit des russischen Smolensk umgekommen war, ließ sich dort niemand blicken.

Allerdings hatte die polnische Polizei schon im Vorfeld der brisanten Partie einige der Anführer der polnischen Ultras verwarnt. Dennoch waren einige hundert von ihnen unterwegs und ließen sich von dem "russischen Marsch" vom Zentrum zum Stadion provozieren. Wohl 4000 Fans aus Russland nahmen daran teil, die Stadt hatte den Marsch zum russischen Nationalfeiertag genehmigt. Eskortiert von mehreren Hundertschaften Polizei, zogen sie zum Stadion. An einigen Stellen wurden Flaschen und Steine vom Straßenrand auf die Teilnehmer geschmissen, und auch die russischen Ultras hatten sich mit Wurfgeschossen eingedeckt. Doch war die Polizei darauf vorbereitet, mit Schlagstöcken und Wasserwerfern wurden die prügelnden "Pseudofans", wie die polnische Presse sie nennt, auseinandergetrieben.

Am härtesten ging es dabei in unmittelbärer Nähe zum Nationalstadion zur Sache. Auch polnische Reporter befanden, dass die eigenen Ultras wohl mit den Pöbeleien begonnen hätten. Insgesamt waren am Spieltag die polnischen Medien bemüht gewesen, die Emotionen herunterzufahren. Wie schon bei den Begegnungen gegen die Deutschen 2006 und 2008 wunderten sich die Warschauer Kommentatoren, dass offenkundig ironisch gemeinte Fotomontagen, bei denen Trainer und Spieler als Recken bei historischen Schlachten auftreten, im Ausland ernst genommen würden.

So hatten mehrere Zeitungen Anspielungen auf den Polnischen-Sowjetischen Krieg von 1920 gebracht, der mit einer schweren Niederlage der Roten Armee endete. Am Morgen nach dem Spiel äußerten sich Vertreter beider Fußballverbände erleichtert darüber, dass die Ausschreitungen letztlich rasch eingedämmt werden konnten. Auf beiden Seiten spiegeln sich gerade im Sport die unaufgearbeiteten Konflikte der Vergangenheit, namentlich der Sowjetzeit, wider, aber auch die Spannungen der Gegenwart.

Die politische Elite an der Weichsel unterstellt quer durch alle Parteien dem russischen Präsidenten Wladimir Putin einen neoimperialen Kurs. Seine Energiepolitik, vor allem die Stellung des Monopolisten Gazprom, wird als offene Bedrohung verstanden. Putin wiederum hat in der Vergangenheit die Spannungen noch zusätzlich geschürt, in dem er beispielsweise den Tag der Kapitulation des polnischen Kontingents, das Anfang des 17. Jahrhunderts vorübergehend den Kreml besetzt hatte, 400 Jahre später wieder zu einem der Nationalfeiertage erklärte.

Zwar schien sich vor zwei Jahren, als Putin und der polnische Premierminister Donald Tusk zusammentrafen, um der Opfer des Massakers von Katyn zu gedenken, ein Tauwetter abzuzeichnen. Bei Katyn und in anderen Orten hatte der sowjetische Geheimdienst NKWD 1940 etwa 22.000 polnische Offiziere und Intellektuelle erschossen. Doch drei Tage später stürzte die polnische Regierungsmaschine mit einer von Präsident Lech Kaczynski geführten Delegation, die auf dem Weg nach Katyn war, im Nebel von Smolensk ab.

Dass die russische Seite bei der Aufklärung dieses Flugzeugunglücks getrickst und manipuliert hat, indem sie etwa die polnischen Ermittler von der Befragung der Fluglotsen ausschloss, hat die Beziehungen zwischen beiden Hauptstädten wieder erheblich eingetrübt. Smolensk bleibt ein "Stachel im Herzen der Polen", wie die nationalistische Gazeta Polska schrieb. "Smolensk" riefen auch einige der polnischen Ultras, als sie auf russische Fans trafen. Doch waren dies Einzelfälle. Nach einer Blitzumfrage des Senders Trojka sind die Schlägereien vom Dienstag der überwältigenden Mehrheit der Polen peinlich. Sie wollen sich als gute Gastgeber präsentieren.

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