Wenn das Neue aufs Alte prallt, führt das oft zu anregenden Momenten, und deshalb lohnt es sich jetzt, noch einmal nach Rio de Janeiro zurückzublenden. Jackie Baumann, 21, war dort über 400 Meter Hürden gestartet, sie blieb bereits im Vorlauf hängen, aber das konnte der Freude über ihre ersten Sommerspiele nichts anhaben. "Es gibt hier viele Beschwerden, die ich nicht teile", sagte Baumann später. Über die schlechte Stimmung im leeren Stadion, die Unterkünfte, und dieses Essen erst, pfui Deibel. "Es gibt jeden Tag genug zu essen", sagte Baumann, Empörung legte sich in ihre Stimme, "24 Stunden lang! Man kann den ganzen Tag essen! Und wir kriegen immer ein Shuttle. Was will man denn mehr als Athlet?"
Baumann war mit ihrer erfrischenden Haltung in Rio dann doch eher allein. Es waren schwere Spiele für die Leichtathletik, die in diesen Tagen auf die letzten Höhepunkte der Freiluftsaison zusteuert. Die selbsternannte Kernsportart harrte bei Olympia am Rand aus. Ihr Stadion, weder Schauplatz der Eröffnungs- noch der Schlusszeremonie, lag eine Fahrstunde vom Olympiapark entfernt. Wenn nicht gerade Sprintzar Usain Bolt Hof hielt, verirrten sich kaum Zuschauer dorthin. Die Diskuswerferinnen bestritten mittags ihr Finale (zur besten europäischen Sendezeit), nachdem sie sich am Spätabend zuvor durch die Qualifikation gezwängt hatten, parallel zu anderen Finalkämpfen (zur besten US-Sendezeit). Dazwischen lagen vier Stunden Schlaf und mancher Protest, der verpuffte. Rio waren nicht die Spiele der Leichtathleten, der Leichtathletik schon gar nicht. Die Leichtathletik, schrieb der langjährige Funktionär Luciano Barra vor Kurzem in einem offenen Brief an Weltverbands-Präsident Sebastian Coe, sei in Rio degradiert und gedemütigt worden wie noch nie.
In diesem Sommer war oft die Rede davon gewesen, wie es mit dem Sport weitergehen soll, wer die Leerstelle füllen kann, die Usain Bolt bald hinterlassen wird. Eine Antwort wäre vielleicht, sich vom fiebrigen Rekordwahn zu verabschieden, der die gewöhnliche, schöne Leistung entwertet. Eine andere, den angestaubten Sport vitaler und verständlicher zu präsentieren. Beides hat die Leichtathletik bislang nicht geschafft. Coe, der vor einem Jahr den skandalumtosten Lamine Diack ablöste, zitierte in Rio die Weltrekorde als Beleg dafür, dass sein Sport - von Dopingskandalen und Misstrauen geschüttelt - doch ganz gesund und munter sei. Und der Reformwille der neuen Führung zielte bislang in die falsche Richtung. In der Diamond League, der höchsten und nach wie vor unübersichtlichen Wettkampfserie, kürzten sie vor der Saison die Versuche in den Wurf- und Stoßdisziplinen zusammen. Womit sie zwar Zeit gewannen, aber auch die Wut der Athleten. Die Regel wird wohl wieder abgeschafft werden, für die kommende Saison.
Es gibt keine Selbstverständlichkeiten mehr für die einstige Königin des Sommersports. Aber es gibt auch Anzeichen der Genesung. In Berlin etwa, wo an diesem Wochenende das Istaf stattfindet, das größte deutsche Meeting. Sie haben ihr Stadionfest, das einmal ganz und vor rund vier Jahren so gut wie pleite war, in Zeiten von Skandalen und Krisen stabilisiert. Sie haben sich gegen eine Aufnahme in die Diamond League entschieden, die ihnen Preisgeld, Disziplinen und Veranstaltungstag vorschreiben würde. Sie haben den Werfern nicht die Versuche gekürzt, sondern laden weniger Teilnehmer ein, die sie dafür ausführlicher vorstellen und präsentieren. Die Diskuswerfer werfen diesmal nicht aus der Ecke diagonal auf den Rasen, sondern mittig, vom Strafraum der Hertha aus, in den die Organisatoren einen Diskusring eingelassen haben. Die Athleten, vor allem Robert Harting, hatten es sich so gewünscht.