Juan Martin del Potro:Der verhinderte Grand-Slam-Seriensieger

Lesezeit: 3 min

Das beste Tennis seines Lebens? Del Potro in Aktion im Viertelfinale gegen John Isner. (Foto: AFP)
  • Was hätte Juan Martin del Potro alles gewinnen können, wenn ihm die Natur nicht gläserne Knochen in beide Handgelenke gelegt hätte?
  • Der Argentinier gilt als der Spieler, der viel mehr Titel hätte gewinnen müssen, als es ihm gesundheitlich möglich war.
  • Im Halbfinale der US Open trifft er nun auf Rafael Nadal.

Von Jürgen Schmieder, New York

Es ist völliger Blödsinn, und genau deshalb macht es gerade im Sport manchmal Spaß, ein Paralleluniversum zu erstellen. Man verändert dabei eine oder zwei Variablen, und dann diskutiert man leidenschaftlich die möglichen Ergebnisse der neuen Gleichung. Zum Beispiel: Wäre die deutsche Fußball-Nationalelf 2014 wirklich Weltmeister geworden, wenn der Schiedsrichter das reguläre Tor von Frank Lampard im Achtelfinale der WM 2010 gegeben hätte? Oder was wäre passiert, wenn Cassius Clay niemals Malcolm X begegnet wäre? Oder wenn der Formel-1-Fahrer Nick Heidfeld mal in einem Ferrari gesessen hätte? Solche Sachen.

Am Freitag werden Rafael Nadal und Juan Martín del Potro im Halbfinale der US Open gegeneinander antreten. Es ist das vierte Grand-Slam-Duell der beiden innerhalb von zwölf Monaten, Nadal hat die ersten drei gewonnen, und die erste Parallelwelt-Variable dieser Tennisgleichung lautet nun: Was wäre gewesen, wenn die Natur dem Argentinier nicht gläserne Knochen in beide Handgelenke gelegt hätte?

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Der Serbe gewinnt aber trotzdem gegen John Millman und erreicht das Halbfinale der US Open. Bei den Frauen überrascht weiter die Japanerin Naomi Osaka.

Del Potro gewann 2009 die US Open, er war damals gerade mal 21 Jahre alt. Er fegte im Halbfinale Rafael Nadal vom Platz und besiegte im Endspiel tatsächlich Roger Federer, der davor 41 Spiele nacheinander in New York nicht verloren hatte. Es war eine unvergessliche Partie, weil Federer sie wohl hätte gewinnen müssen - aber er verlor sie eben gegen diesen stets freundlich grinsenden Lümmel, der sich nach dem Sieg gegen Nadal noch auf dem Platz beim Publikum dafür entschuldigt hatte, dass es wegen ihm kein Traumfinale gegen Federer geben würde: "I am so sorry!" Seinen Sieg über Federer nannte er, und es schaffen nur südamerikanische Sportler, dass so was nicht kitschig klingt: "Ein Wunder!"

Del Potro wollte seine Karriere schon beenden

Die mittlerweile sogenannten "großen Vier" im Männertennis gab es damals noch nicht. Es gab Nadal und Federer, und es gab ein paar andere, denen man zutraute, die Dominanz der beiden zu brechen: Andy Murray, Novak Djokovic - und Juan Martín del Potro. Was wäre also passiert, wenn Letzterer wegen einer Verletzung am rechten Handgelenk nicht neun Monate hätte pausieren müssen? Hätte Nadal im Jahr 2010 wirklich drei Grand-Slam-Turniere gewonnen, vor allem die in Wimbledon und in New York? Wären die großen Vier, die aufgrund der Erfolge von Stan Wawrinka schon eher die "großen Fünf" sind, vielleicht die "großen Sechs" geworden?

Del Potro kämpfte sich nach weiteren Pausen - 2014 verletzte er sich schlimm am linken Handgelenk, wollte seine Karriere schon beenden und musste danach seine Spielweise komplett umstellen - zurück an die Weltspitze. Nun muss eine zweite Variable verändert werden, weil del Potro seit zwei Jahren bei jedem Grand-Slam-Turnier zu den Favoriten zählt: Was wäre also passiert, hätte Nadal seinen gerade zu Beginn seiner Karriere so unfassbar geschundenen Körper in den vergangenen beiden Jahren nicht auf wundersame Weise wieder so hinbekommen, dass er sieben Partien über drei Gewinnsätze übersteht?

Nadal steckt jedenfalls auch bei diesen US Open mühsame Matches scheinbar mühelos weg; er kommt bislang auf insgesamt 16 917 gelaufene Meter. Zum Vergleich: Keiner der anderen Verbliebenen im Turnier - das zweite Halbfinale bestreiten Novak Djokovic (Serbien) und Kei Nishikori (Japan) - kommt auf mehr als 13 500 Meter. Bei del Potro sind es gar nur 10 658 Meter. Es gibt nicht wenige Experten, die sich fragen, wie Nadal das macht - und es gibt keinen, der einem eine vernünftige Antwort darauf geben kann.

Es gibt bei diesen hypothetischen Debatten keine richtige Antwort, es gibt nur Meinungen: Manche Leute behaupten, dass del Potro ohne Verletzungen und ohne das erstaunlich Comeback von Nadal mittlerweile mindestens fünf Grand-Slam-Titel gewonnen hätte. Und es gibt Leute, die sagen, dass das alles auch nichts geändert hätte. Deshalb: zurück zur Realität.

"Ich weiß nicht, ob ich gerade das beste Tennis meines Lebens spiele, aber ich fühle mich ziemlich gut", sagt del Potro, 29, jetzt in New York. Und dann wiederholt er, was er seit Jahren sagt, und auch diese Sätze klingen nur bei ihm nicht kitschig: "Die Resultate sind nicht mehr so wichtig. Ich bin nach all dem, was ich durchgemacht habe, froh, dass ich noch dabei bin. Ich habe Spaß am Tennis. Ich genieße die Leidenschaft der Fans. Ich liebe große Kämpfe gegen große Gegner. Das sorgt dafür, dass ich mich wieder lebendig fühle."

Bis zum Viertelfinale gegen John Isner (USA) hatte del Potro bei diesen US Open noch keinen Satz abgeben müssen, und gegen den Aufschlag-Kanonier verlor er auch nur einen Durchgang im Tie Break. Del Potro besteht nun nicht mehr nur aus Aufschlag und dieser Vorhand, die scheinbar ohne jegliche Flugkurve auf direktem Weg in die Ecken des gegnerischen Feldes kracht. Er bewegt sich viel geschmeidiger als vor seinen Verletzungen und verfügt nun über einen sicheren und gewitzten Rückhand-Slice. Aus dem eindimensionalen Prügler ist ein spielfreudiges Kerlchen geworden, und man fragt sich dann doch: Was wäre gewesen, wenn ...

Nein, das lässt man lieber. Das Paralleluniversum kann keine so grandiose Partie bieten, wie es die am Freitag zu werden verspricht.

© SZ vom 07.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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