Eine Szene kann im Fußball auf viele Weisen interpretiert werden, so war das auch bei dieser. Sie begann mit einem Schuss, der so stramm aufs Frankfurter Tor zugeflogen kam, dass Torwart Kevin Trapp ihn nur etwas unbeholfen zur Seite abwehren konnte. Dort, wo der Ball hinsprang, hatte sich bereits ein Stürmer in Stellung gebracht, er stand so frei, dass er jetzt einfach keinen groben Unfug mehr anstellen durfte. Tat er auch nicht. Der Stürmer schob den Ball unfallfrei über die Linie.
Der Fußball hat solche Szenen bereits unzählige Male fabriziert, aber das öffentliche Urteil ist nicht immer dasselbe. Es hängt, so viel lässt sich vorwegnehmen, nur vom Schützen selbst ab. Wenn der Stürmer, sagen wir, nach vierzehn schmucklosen Partien zum ersten Mal auf diese simple Weise trifft, dann heißt es: Klar, so schafft's sogar der Blindfisch. Sollte der Stürmer dagegen zuvor eine rekordverdächtige Serie hingelegt haben, passiert es häufig, dass dasselbe Tor bedeutungsschwer aufgeladen wird. Gerne wird dem Stürmer dann "Instinkt" zugeschrieben, auch die Begriffe "unnachahmlich" und "clever" fallen oft.
2:2 bei RB Leipzig:Kane und Sané erlösen die Bayern
Nach einem selbstverschuldeten Zwei-Tore-Rückstand finden die Bayern beim 2:2 gegen RB Leipzig erst in der zweiten Hälfte zu ihrem dominanten Spiel. Überschattet wird die Partie von den Nachwehen der Freistellung von Leipzigs Sportvorstand Eberl.
Jonas Wind vom VfL Wolfsburg, daran besteht kein Zweifel, ist aktuell der zweite Typ Stürmer. Sein Instinkt hat ihn am Samstag gleich doppelt in aussichtsreiche Abstauberpositionen gebracht, in denen er nicht mehr tun musste, als seinen Fuß im richtigen Winkel gegen den Ball zu halten: Zuerst staubte der Däne nach einem Schuss von Lovro Majer ab, später einen von ihm verschossenen Elfmeter. Am Ende stand ein 2:0 gegen Eintracht Frankfurt - ein Sieg, mit dem sich die Wolfsburger im Spitzenfeld der Liga festsetzen konnten.
Noch ein wenig besser hat sich Wind, 24, in der Torjägerliste positioniert: Dort belegt er Rang drei, direkt hinter Stuttgarts Serhou Guirassy und Bayerns Harry Kane. Einen prominenten Platz hat er auch vereinsinternen Geschichtsbuch des VfL eingenommen, in dem seit immerhin 25 Jahren Erstliga-Daten erfasst werden: Sieben Treffer nach sechs Spieltagen hat zuvor noch kein Wolfsburger erzielt - kein Edin Dzeko, kein Grafite, kein Mario Mandzukic und nicht mal der am Mittellandkanal umjubelte Roy Präger.
Kein VfL-Stürmer ist so gut in eine Saison gestartet wie Jonas Wind
Eine beachtliche Ausbeute, die in der Wolfsburger Arena hinterher geradezu charmant relativiert wurde. Der Ball, sagte VfL-Sportchef Marcel Schäfer über Wind, pralle gerade halt immer "da hin, wo er steht". Damit wollte Schäfer den Stürmer aber nicht des Stehgeigertums bezichtigen, sondern dessen "Lauf" würdigen. Und auch Wind schaute verschmitzt, als er in der Interviewzone auftauchte. Er habe gerade "ein gutes Gefühl", sagte er, das Resultat seien "viele Tore" - und wenn man sich als Stürmer gut fühle, ergänzte er, "dann kommen die Tore zu dir".
Ja, so einfach ist das. Oder nicht?
Winds aktuelle Orkanstärke hat zwei Ebenen, die eine betrifft ihn selbst, die andere seinen Trainer Niko Kovac. Zum VfL gekommen ist Wind im Januar 2022 vom FC Kopenhagen, damals als eine Art 12 Millionen Euro teurer Schattenmann von Max Kruse, dessen Verpflichtung die gesamte Aufmerksamkeit absorbierte. Der damalige VfL-Coach Florian Kohfeldt hielt Wind schon zu dieser Zeit für einen richtigen Knallerkicker. Nur: Nach einer mehr als ordentlichen Debüt-Rückrunde in der Autostadt zog er sich eine Muskelverletzung zu, wegen der er die Vorbereitung der nächsten Saison verpasste. Der 1,90-Meter-Stürmer war damit seines offensichtlichsten Kernmerkmals beraubt, seiner Physis, und traf in der gesamten Spielzeit nur fünf Mal. Etwas ernüchternd verlief für ihn auch die WM 2022 in Katar: Wind war für die Dänen zwar dabei, aber spielen durfte er nicht.
Der Däne erscheint wie eine Idealbesetzung für eine von Niko Kovac trainierte Elf
Jetzt habe Wind keine "Wehwehchen" mehr, sagte Schäfer, sondern physisch ein "Top-Niveau erreicht", das den Formanstieg begünstige. Womit man beim Chefcoach Kovac wäre, der bekanntermaßen nichts lieber mag als körperliches Spitzenniveau - sofern es auf dem Platz mit so viel Intensität und strategischer Disziplin kombiniert wird, dass alle drei Faktoren das defensive Leistungsvermögen seines Teams erhöhen. Von vermeintlich lästigen Pflichten, betonte der Kroate, sei der Stürmer Wind "nicht freigestellt", im Gegenteil: "Das macht er, er ist so ein Charakter."
In der Tat erscheint Wind wie die Idealbesetzung in einer Kovac-Elf, weil er alles pflichtbewusst erledigt, was da vorne so an Aufgaben anfällt: Anlaufen der gegnerischen Verteidiger, Bewahren von Ballbesitz auch in Stresssituationen, Konsequenz in Offensivaktionen. Dabei unterschätzen manche die Feinmotorik von Jonas Wind. Allein im Spiel gegen die Eintracht spielte er zwei sehenswerte Steckpässchen in die Tiefe, die gut und gerne zu Treffern hätten führen können, wenn er sie selbst in Empfang genommen hätte.
Dazu gilt der Däne zwar als schüchtern, aber auch als professioneller Angestellter, der sich selbst und seinen Kollegen im Training einiges abverlangt. Ausnahmen wie Partybilder bei einem Musikfestival im dänischen Roskilde bestätigen da nur die Regel: Zu sehen war der frisch blondierte Wind, wie er in der Sommerpause mit einem Schlauch im Mund aus Eimern trank. "Vielleicht war da ja Zielwasser drin...", unkte die Wolfsburger Allgemeine Zeitung. Nun ja, ganz abwegig war diese These nicht.