Tour de France:Aus dem Koma zum Etappensieg

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Kuss für die Medaille: Fabio Jakobsen in Nyborg. (Foto: Marco Bertorello/AFP)

2020 erlebte Radprofi Fabio Jakobsen einen fürchterlichen Crash. Nun ist er einer der schnellsten Sprinter der Welt - und feiert prompt seinen ersten Tagessieg bei der Tour. Er glaubt, dass ihm der schlimme Unfall sogar geholfen hat.

Von Johannes Aumüller

Im Moment des großen Triumphs verteilte Fabio Jakobsen eine ganze Reihe an Dankeschöns. Bei erfolgreichen Auftritten irgendjemandem Merci zu sagen, gehört zu den üblichen Ritualen der Sportwelt, erst recht in der Radszene. Und doch hatte es eine ganz besondere Anmutung, als der niederländische Top-Sprinter am Samstagabend nach seinem Etappensieg vor den Mikrofonen saß und zum Dankesreigen ansetzte: an die Verlobte, die Eltern und den Rest der Familie, an sein Quickstep-Team, die Ärzte und dann auch noch an einen gewissen Cor, einen 85 Jahre alten Osteopathen, "der meine Muskeln wieder zum Laufen gebracht hat".

Jakobsen, 25, selbst hat es ein "Wunder" und ein "Märchen" genannt, dass er die erste Flachetappe der Tour für sich entschied; und auch wenn der Sport solche Begriffe gemeinhin arg inflationär verwendet, so wirken sie in diesem Fall nicht vermessen. Denn über die Bilder jener packenden Zieleinfahrt von Nyborg am Samstag, da legen sich gedanklich unweigerlich jene Bilder von einer dramatischen Zieleinfahrt in Katowice im August 2020.

Das Bild der Zieleinfahrt von Katowice: Jakobsen (links) stürzt über die Absperrung. (Foto: Tomasz Markowski/dpa)

Mit 80 km/h spurteten Jakobsen und seine Konkurrenten damals eine Straße hinab Richtung Ziel, es war eine seit Jahren gefürchtete Sprintankunft, die der Veranstalter trotz aller Kritik aus dem Fahrerfeld nicht veränderte. Doch diesmal endete das Vabanquespiel auf dramatische Weise. Sein niederländischer Landsmann Dylan Groenewegen kam Jakobsen zu nahe, drängte ihn von der Ideallinie und in die Absperrgitter, über die Jakobsen flog.

Es war einer der fürchterlichsten Crashs in der Historie des Radsports. Die Mediziner befürchteten, dass Jakobsen sterben würde, zwei Tage lag er im künstlichen Koma, viele Wochen im Krankenhaus. Der Sprinter war quasi überall verletzt und wurde zigmal operiert. Mit 130 Stichen nähten die Ärzte sein Gesicht, aus Teilen des Beckenknochens formten sie einen neuen Kiefer, eine fast komplett neue Zahnreihe bohrten sie hinein. Rund ein Dreivierteljahr setzte er aus, dann gab er sein Comeback.

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Er habe erst wieder lernen müssen, ein Mensch zu werden, dann wieder lernen müssen, ein Fahrradfahrer zu sein, und dann wieder lernen müssen, ein Top-Sprinter zu werden, sagte Jakobsen in Nyborg. Aber durch den Sieg schließe sich ein Kreis.

Da konnte Jakobsen noch nicht ahnen, dass es in dem ganzen Thema einen Tag später noch eine erstaunliche Volte geben würde. Da setzte sich nämlich im zweiten Zielsprint dieser Tour just der damalige Drängler Groenewegen durch. Der hat sich dann auch erst einmal ausführlich und bei vielen Menschen bedankt, wenn auch nicht bei seinem Osteopathen. "Mental war es eine schwere Zeit, nach allem, was passiert ist", sagte er.

Der 29-Jährige war nach dem Unfall 2020 wegen seiner rücksichtslosen Fahrweise für neun Monate gesperrt worden, später entschuldigte er sich unter Tränen öffentlich, aber das Verhältnis zu Jakobsen ist angespannt geblieben. Im vergangenen Jahr haben sich die beiden mal in Amsterdam getroffen, mitsamt ihren Anwälten, aber zur Befriedung taugte das nicht. Groenewegen hat danach öffentlich so getan, als hätten sie sich ausgesprochen, Jakobsen war not amused, dass der Unfallverursacher überhaupt über das Date sprach und hielt fest, dieser habe sich nicht bei ihm entschuldigt. In jedem Fall schien der ganze Vorgang Groenewegen wirklich mitzunehmen, richtig anknüpfen an seine starken Saisons 2018/19 konnte er nicht, weshalb er für die Spurts dieser Tour auch nur als Außenseiter galt. Aber nun wirkte es am Sonntag, als habe sich Jakobsens Märchen auch auf Groenewegen positiv ausgewirkt.

Die Schmerzen auf den letzten 500 Metern? Nichts im Vergleich zu den Schmerzen auf der Intensivstation, sagt Jakobsen

Man kann sich das ja kaum vorstellen, dass ein Sportler eine solche Nahtod-Erfahrung im Kopf hat - und dann doch wieder in diesen gefährlichen Spurts mitmischt. Wie in kaum einem anderen Sport gehören im Radsport das Sturzrisiko und entsprechend schwere Verletzungen ohnehin dazu. Aber für die Sprinter gilt das alles noch auf besondere Weise, wenn sie auf den letzten Kilometern im horrenden Tempo um die besten Positionen kämpfen, hier noch einen Rivalen überholen wollen, dort noch Schulter an Schulter kämpfen. In jedem Moment kann es da wieder zu einem Sturz kommen, aber wer in so kritischen Momenten bremst, der hat kaum noch eine Chance inmitten der rasenden Meute.

Fabio Jakobsen stellt das Ganze nun so dar, dass er es nicht nur schafft, diesen Moment auszublenden, sondern dass in dem schrecklichen Moment das Fundament für seine weitere Karriere erwuchs. Der Sturz habe ihn als Person verändert. Er sei jetzt demütiger und liebe das Radfahren umso mehr; und die Schmerzen auf den letzten 500 Metern seien nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die er auf der Intensivstation erlebt habe. Und so ist Jakobsen jetzt besser, als er es vorher jemals war.

Schon bei der Spanien-Rundfahrt im Herbst entschied er drei Etappen und die Punktewertung für sich, in der ersten Hälfte der aktuellen Saison gelangen ihm sieben Siege. Jakobsen war vor der Tour so stark in Form, dass die Teamleitung um Patrick Lefevere dafür sogar den Rekord-Sprinter Mark Cavendish (34 Etappensiege bei der Tour) ausbootete.

In der Form seines Lebens: Jakobsen inmitten von Gratulanten. (Foto: Panoramic International/Imago)

So etwas erhöht den Druck dann natürlich noch, erst recht bei Lefevere. Der steuert auch nach fast vier Jahrzehnten und zig Dopingaffären (der massiv belastete, aber stets die Vorwürfe zurückweisende Arzt Yvan Vanmol wirkt bis heute im medizinischen Stab) das Quickstep-Team mit seiner gewöhnungsbedürftigen Art der Personalführung. "Ich mag es, unter Druck zu agieren", sagt Jakobsen: "Unter Druck formt man Diamanten."

Die Tour de France 2022 ist eigentlich kein ideales Terrain für die endschnellen Pedaleure. Auf der Suche nach mehr Spannungselementen haben die Verantwortlichen die Zahl der Sprintetappen reduziert. Gerade mal sechs Abschnitte sind noch als Flachstücke ausgeflaggt, und selbst die beinhalten oft noch Schwierigkeiten. Aber Fabio Jakobsen ist offenbar in einer solchen Verfassung, dass der Sieg am Samstag nicht der letzte Teil seines Märchens gewesen sein dürfte.

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