Interview mit Timo Boll:"Eine große Liebe betrügt man nicht"

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Timo Boll über Ehrlichkeit am Tisch, chinesische Schildkröten, Dirk Nowitzki und die bevorstehende Tischtennis-EM in Stuttgart.

S. Krass und L. Schulze

SZ: Herr Boll, am Sonntag beginnt die EM in Stuttgart. Bei den letzten beiden Europameisterschaften haben Sie alle sechs Titel gewonnen, die es für Sie zu gewinnen gab, in Einzel, Doppel und mit der Mannschaft. Wenn der Ehrgeiz derart gesättigt wird, wo ist da für Sie noch der Reiz einer solchen Veranstaltung?

Boll: Vielleicht müsste ich noch Mixed spielen, da habe ich noch keinen Titel. Nein, im Ernst: Dann dürfte ich ja auch keine Bundesliga oder Champions League mehr spielen. Da habe ich auch schon alles gewonnen. Aber das ist Sport: jedes Wochenende die neue Herausforderung suchen, sich immer wieder neu durchsetzen. Auch in der Bundesliga werde ich noch nervös, wenn es eng wird.

SZ: Sie haben einmal von Ihrer Angst vor der Niederlage gesprochen. Woher kommt diese Angst?

Boll: Ich habe Angst vor diesem schlechten Gefühl, verloren zu haben.

SZ: Ist das Leere? Verzweiflung?

Boll: Kommt drauf an, wie man verliert. Es gibt Tage, an denen man das Gefühl hat, es wären noch fünf Prozent mehr gegangen. Wenn man dann verliert, fühlt sich das sehr schlecht an. Dieses Gefühl will ich vermeiden.

SZ: Bei der WM in Schanghai 2005 haben Sie im Achtelfinale bei eigenem Matchball einen Kantenball ihres Gegners anerkannt, den die Schiedsrichter übersehen hatten. Am Ende verloren Sie die Partie. Trotz Ihrer Angst vor der Niederlage?

Boll: Die Angst vor der Niederlage ist nicht so groß wie die Angst vor dem Gefühl, durch Beschiss zu gewinnen.

SZ: Im Profisport scheint der Betrug die Regel zu sein: Thomas Helmer schießt neben das Tor, der Schiedsrichter entscheidet trotzdem auf Tor, Helmer jubelt trotzdem. Kaum ein Tennisspieler würde eine Fehlentscheidung korrigieren. Sind Sie da altmodisch?

Boll: Altmodisch würde ich nicht sagen. Ich möchte damit nicht leben. Dann verliere ich lieber. Wofür macht man den Sport das ganze Leben lang? Natürlich auch, um Geld zu verdienen. Aber es ist vor allem eine große Liebe, und die betrügt man nicht.

SZ: In Stuttgart wird die Halle voll sein, wenn Sie spielen. Die Leute werden denken: Der Boll hat zuletzt zweimal alles gewonnen. Das wollen wir jetzt bitteschön auch sehen. Beeinflusst Sie das?

Boll: Mir würde es einfach leid tun, wenn am Finaltag kein Deutscher dabei ist. Für die Leute, für die Organisatoren, und für das deutsche Tischtennis.

SZ: Sie sehen sich also nicht als Einzelkämpfer, sondern in einer besonderen Verantwortung.

Boll: Das ist ja mein großes Ziel, Tischtennis in Deutschland weiter nach vorn zu bringen. Da ist so eine EM ein kleiner Schritt, der uns helfen kann. (Hans-Wilhelm Gäb, früher selbst Tischtennis-Nationalspieler, zuletzt Vorstand der Deutschen Sporthilfe und seit vielen Jahren Berater von Boll, schenkt Kaffee ein).

SZ: Wollen Sie auch einen?

Boll: Nö, danke, ich war vor kurzem beim Ernährungsberater. Ich mag Kaffee nur mit Zucker. Aber das unterbricht die Fettverbrennung für Stunden. Ich war vorhin auf der Waage, 76 Kilo, zwei könnten noch runter, 74 ist perfekt. Aber immerhin: Nach dem Italienurlaub im Sommer hatte ich 79 Kilo.

SZ: Zu Ihrem Spiel: Sie sind bekannt dafür, den Ball sehr früh zu treffen, dadurch bekommt er eine hohe Beschleunigung und enormen Drall.

Boll: Da bin ich einer der Pioniere, die versuchen, einfach alles sehr früh zu spielen. Ich will den Gegner nach seinem Aufschlag schon mit dem ersten Rückschlag unglaublich unter Druck zu setzen.

SZ: Also sofort aus der Verteidigung in eine Angriffshaltung kommen?

Boll: Genau. Wenn ein normaler Spieler sagen würde: Ich bin in Bedrängnis. Dann probiere ich einen Ball zu spielen, mit dem man einen Punkt gewinnen kann. Und das hassen meine Gegner auch im Training. Weil ich den normalen Blockball von früher gar nicht mehr spiele. Weil ich auf jeden aktiven Ball gleich mit einem Topspin agiere.

Lesen Sie auf Seite 2: Was passiert wäre, wenn Timo Boll in Schanghai aufgewachsen wäre...

SZ: Zu einem Weltklassespieler gehört auch eine gewisse genetische Disposition, zum Beispiel bei der optischen Wahrnehmung. Sind Sie in dem Bereich schon einmal untersucht worden?

Boll: Wir machen des Öfteren einen Sehtest, in dem es vor allem auf das dynamische Sehen ankommt, also darauf, einen schnellen Gegenstand zu verfolgen. Bei dem Test hat man den Kopf fixiert und muss auf einen Bildschirm schauen. Dann kam eine C-förmig ausschauende kleine Abbildung immer schneller vorbei geflogen, und man musste sagen, wo die Öffnung ist: oben, unten, rechts, links. Da bin ich schon überdurchschnittlich. 100 Prozent ist der normale Wert, ich lag bei 280 Prozent. Durch unseren Sport wird das Auge extrem trainiert.

SZ: Kennen Sie Vergleichswerte von anderen Spielern?

Boll: Da liege ich schon an der Spitze. Aber wir haben das auch einen Jetpiloten von der Luftwaffe machen lassen. Von denen sagt man ja, dass sie sehr gute Augen haben. Der war beim statischen Sehen sehr gut, also bei einem C, das kurz blinkt, sich aber nicht bewegt. Aber beim dynamischen Sehen hatte er nur 80 Prozent. Er war allerdings 40 Jahre alt. Da lässt das Sehorgan schon stark nach.

SZ: Sie haben Tischtennis einmal mit Schach verglichen. Warum?

Boll: Wenn ich den Ball hole, überlege ich: Was hat er vorher gespielt? Womit hat er viele Punkte gemacht? Da führe ich eine Art Statistik im Kopf. Daraus schließe ich, was kommen könnte. Und bei manchen Leuten weiß man einfach: Wenn es ein wichtiger Punkt ist, probiert der was, womit ich nicht rechne. Das programmiert man dann mit ein.

SZ: Das klingt ja wie bei einem Rechner. Sie versuchen also, den Tischtenniscode des Gegners zu lesen.

Boll: Kann man so sagen. Und dazu gehört eben auch ein bisschen Psychologie, um den Gegner zu erfassen.

SZ: Auch wenn jetzt EM ist, verfolgt Sie das Thema Boll und die Chinesen, der David gegen die Phalanx der Goliaths. Was wäre, wenn Sie nicht in Erbach im Odenwald geboren worden wären, sondern in Schanghai oder in Peking?

Boll (lacht): Es wäre hart geworden für mich.

SZ: Wären Sie heute ein noch besserer Tischtennisspieler?

Boll: Dort bekommt man einen ganz anderen Charakter, eine andere Erziehung. Für mein Talent wäre das sicher gut gewesen. Wenn ich so früh, mit vier, fünf Jahren, so gute Trainer gehabt hätte und zwei, drei Mal am Tag trainiert hätte, wäre ich mit 16, 17 auf ganz anderem Level gewesen. Ich habe ja erst mit 16 angefangen, professionell zu trainieren.

SZ: Aber wäre dieser bedingungslose Drill Ihr Ding gewesen?

Boll: Vielleicht hätte ich irgendwann gesagt: Keine Lust mehr, ich gehe lieber studieren, das ist mir zu viel. Vielleicht hätte auch mein Körper gestreikt.

SZ: Vermutlich hätten Sie am Drill auf Dauer kaum Spaß gefunden. Schließlich haben Sie einmal gesagt: Ihre Kinder sollen kein Tischtennis spielen.

Boll (lacht): Ich musste schon auf sehr viel verzichten, in China wäre es noch viel mehr gewesen. Im Vergleich hatte ich eine recht normale Kindheit.

SZ: Sie waren mehr als 40 Mal in China. Zwei Mal hatten Sie mehrwöchige Engagements, worauf Sie feststellten: Wenn ich so über längere Zeit trainieren würde, wäre ich bald tot.

Boll: Ich musste trainieren wie ein Verrückter. Jede Übung ging dreimal so lang wie hier. Meine Schulter war angeschwollen, ich konnte kaum mehr den Arm heben. Aber als ich hier ins Training kam, erkannten die mich kaum wieder. Ich konnte trainieren, trainieren, trainieren.

SZ: Noch dazu hatten Sie mit dem Essen zu kämpfen.

Boll: Man kann in China gut essen. Aber ich hatte ja in der Sportschule gegessen. Und die haben da ihre Philosophie, dass Schildkröte Kraft gibt. Das schmeckt nicht immer so gut. Am Ende habe ich mich fast nur noch von Reis und Sojasauce ernährt. In zwei Monaten habe ich sieben Kilo abgenommen.

Lesen Sie auf Seite 3: Warum Timo Boll attraktiver ist als David Beckham...

SZ: In China sind Sie populärer als in Deutschland. Ein Frauenmagazin hat Sie zum "sexiest man of the world" erklärt. Ein anders chinesisches Medium hat Sie zum attraktivsten Sportler der Welt gekürt, vor David Beckham. Drehen die Leute bei Ihnen auf der Straße genauso durch wie bei ihm?

Boll: Bei den Olympischen Spielen hat man schon gesehen, dass die Leute wussten: Da kommt der Boll! Und auf der Straße erkennt man mich schon. Aber es ist nicht so, dass ich Polizeischutz bräuchte. Der ist eigentlich nur nötig, wenn ich bei einem Turnier aus der Halle will. Viele wollen Autogramme, und wenn die Chinesen im Pulk ankommen, geht es oft recht rabiat zu. Deshalb braucht man ab und zu ein paar Uniformierte, die uns ein bisschen abschirmen.

SZ: Kann man als Tischtennisspieler reich werden? Können Sie am Ende der Karriere sagen: Ich habe ausgesorgt?

Boll: Das kommt auf den Lebensstandard an. Boris Becker hätte wohl mit meinem Verdienst nicht ausgesorgt.

SZ: Aber jemand wie Sie, der bodenständig lebt?

Boll: Keine Ahnung, ich weiß manchmal selbst nicht, was ich verdiene. Das macht alles mein Vater. Ich frage auch nie: Was habe ich auf dem Konto? Ich weiß es nicht und möchte es nicht wissen.

SZ: Wirklich?

Boll: Ich mag es nicht, mich mit dem Geld zu beschäftigen. Ich habe auch keine Aktien. Es würde mich verrückt machen, jeden Tag nach dem Kurs zu schauen und zu sehen: Oh je, jetzt habe ich 2000 Euro verloren.

SZ: Aber eine grobe Vorstellung über Ihre Finanzsituation werden Sie haben.

Boll: Okay, ich weiß, dass ich kein armer Schlucker bin und dass ich mir im Moment auch keine Sorgen machen muss.

SZ: Wenn Sie gesund bleiben, können Sie noch viele Jahre Geld als Spieler verdienen. Dass man im Tischtennis lange konkurrenzfähig sein kann, hat der Schwede Jörgen Persson bei Olympia in Peking bewiesen, als er mit 42 Jahren ins Halbfinale einzog. Auf Sie übertragen hieße das, Sie hätten noch vier Gelegenheiten, olympische Medaillen zu gewinnen. Haben Sie schon mal so gerechnet?

Boll: So langfristig nicht. Aber ich habe mir schon als Ziel gesetzt, bis Olympia 2016 auf Topniveau zu spielen.

SZ: Peking war für Sie auch in privater Hinsicht wertvoll, unter anderem, weil Sie einen neuen Freund gewonnen haben: Dirk Nowitzki. Wie kam es dazu?

Boll: Ich bin Basketballfan, habe von klein auf NBA geschaut und ihn immer bewundert. Er ist ja sehr scheu. Deshalb konnten sich unsere Wege nur bei Olympia treffen. Ich hatte mal gelesen, dass er einen Tischtennistisch hat, und dann habe ich mir gedacht: Dem schenkst du mal einen ordentlichen Schläger. Den habe ich seinen Eltern zukommen lassen. Und an dem Tag, an dem wir in Peking ankamen, kam er vorbei und hat sich bedankt. So ist der Kontakt entstanden.

SZ: Wie sieht die Freundschaft aus?

Boll: Kurz vor Weihnachten habe ich ihn in Dallas besucht. Und jetzt im Sommer hat Dirk mich in Höchst besucht. Würzburg und der Odenwald liegen nicht so weit auseinander. Sonst schreiben wir uns ab und zu mal eine SMS.

SZ: Schon mal Tischtennis gegen ihn gespielt?

Boll: Ja, ein Wahnsinnstalent. Dafür, dass er sonst nie spielt, hat er ein unglaubliches Ballgefühl. Er hat den Topspin mit Effet gespielt. Er hat alles gleich umgesetzt, was ich ihm gesagt habe. Beeindruckend, gerade bei der Körpergröße.

SZ: Basketball ist nicht Ihre einzige Sportliebe neben dem Tischtennis. Sie waren auch ein guter Fußballer.

Boll: Das ist lang her.

SZ: Aber Sie haben im Verein gespielt.

Boll: Ja, hier in meiner Heimatstadt, beim TSV Höchst in der F- und E-Jugend. Da war ich Torschützenkönig. Mit, ich glaube, 89 Tore in einer Saison.

SZ: In wie vielen Spielen?

Boll: In 18 Spielen oder so. Ich habe in jedem Spiel sieben, acht Tore gemacht.

SZ: Solche Zahlen hört man selbst von ganz großen Fußballern wie Franz Beckenbauer nicht.

Boll: Der war ja auch Libero.

SZ: Er hat als Stürmer angefangen, aber so viele Tore hat er nicht geschossen.

Boll: Deswegen ist er dann wahrscheinlich Libero geworden.

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