Initiative "Bunt kickt gut":Die Unschuld des Spiels

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Der Glamour inspiriert die Straße? Vielleicht ist an dieser Legende etwas dran - Impressionen vom Hallenturnier der integrativen Straßenfußball-Initiative "Bunt kickt gut". (Foto: Johannes Simon)

Sie kommen aus allen Teilen der Erde, ihre Idole heißen Messi und Mbappé, und sie nehmen es nur mit Jungs auf: Die Münchner Hobbyfußballerinnen "Harras Ladies" treten in einer interkulturellen Straßenliga an. Auf ihren ersten Sieg warten sie noch - aber gewinnen kann man auch anders.

Von Thomas Hürner, München

Wenn sie in ihren Muttersprachen fluchen würden, wäre das Durcheinander nur noch größer. Die Fußballerinnen der Harras Ladies sitzen in ihrer Kabine, und ihre Gesichter verraten, dass die allgemeine Stimmungslage nicht so recht zu ihren quietschgelben Trikots passt. Sie haben gerade verloren, schon wieder. Sie haben erneut kein Tor geschossen. Sie sind frustriert. Und die Emotionen müssen jetzt erst mal raus. Auf Deutsch. Oder eben in Worten, mit denen man in Deutschland so flucht. "Fuck, ey", ruft Shahida, ein Mädchen mit Wurzeln im Kongo. "Wir spielen viel zu wild", ergänzt Kiara, sie ist halbe Thailänderin. Ein Stimmengewirr hallt nun durch den Raum, ist es eng, dunkel, stickig. Da ergreift Schhad das Wort: "Ey, Mann, Ruhe jetzt! Konzentration, wir haben noch viele Spiele vor uns. Und hört auf, euch anzuschreien!" Es wird tatsächlich still.

Die Harras Ladies sind eine Mannschaft aus Straßenkickerinnen, die das Gewinnen noch gar nicht kennengelernt haben. Dennoch orientieren sie sich nur an obsessiven Gewinnern. Es ist Sonntagvormittag, der Tag des WM-Finales in Katar, das Ende des Turniers steht in wenigen Stunden bevor. Ob sie zusehen werden? Natürlich werden sie das, so eine Weltmeisterschaft ist für sie nun mal das Größte. Zuvor haben sie aber noch eine mindestens mittelgroße Mission zu erfüllen: Die Harras Ladies wollen Jungs besiegen - und das, obwohl sie aus deren Sicht ja "nur" Mädchen sind.

Durch die Mehrzweckhalle im Münchner Stadtteil Feldmoching dröhnt Tormusik, "Seven Nation Army" von den White Stripes, man hört es bis in die Kabine. Die Harras Ladies sind bald wieder dran. Da klopft es an der Tür, Kiara öffnet sie, keiner da. "Boah, die sind so nervig", sagt sie. Ja ja, die Sache mit den Jungs. Die Harras Ladies nehmen an der U15-Liga von "Bunt kickt gut" teil, einer interkulturellen Straßenliga, die mittlerweile quer durch Deutschland und sogar bis nach Togo expandiert ist. Zwischen all den Torschüssen, Tricks und Grätschen, so der Grundgedanke des Projekts, geschieht Integration, weil beim Fußball regelbasierte Begegnungen stattfinden, die es ohne ihn nicht geben würde.

Irgendwann fällt das erste Tor für die Harras Ladies, dafür trainieren sie mit großem Eifer. (Foto: Stephan Rumpf)

So interpretieren auch die Harras Ladies ihren Sport, denn sie fassten im Sommer einen in der Geschichte der Straßenliga seltenen Entschluss: Sie treten nur noch gegen männliche Teams an. Zumeist waren Mädchen in gesonderten Ligen oder in gemischten Teams dabei, die wenigen Ausnahmen haben in der Vergangenheit schnell aufgegeben. Das Ziel der Harras Ladies hingegen lautet: weiterspielen. Immer weiterspielen, bis es endlich mit dem ersten Torerfolg klappt, eines Tages vielleicht sogar mit einem Sieg. Dabei läuft es bislang alles andere als gut für sie: Niederlage reiht sich an Niederlage, Gegentreffer an Gegentreffer, auch bei dem 0:2 vorhin gegen die Ausländerbande waren sie chancenlos.

Dass es die Harras Ladies überhaupt gibt, war Zufall. Ein paar der Mädels haben sich bei einem Fußballcamp kennengelernt, sie verstanden sich, das Kicken machte Spaß. Bei "Bunt kickt gut", das vor 26 Jahren vom Sozialarbeiter Rüdiger Heid ins Leben gerufen wurde, fanden sie die Strukturen vor, um die Sache zu verstetigen, und wenig später hatten sie dann auch ein Team beisammen: Sandra, Laura, Chahida, Britney, Merem, Mina, Kiara und Schhad. Mit ihren Familien sind sie aus sämtlichen Teilen der Erde nach Deutschland gekommen, aus der Türkei, Togo oder Rumänien. Sie haben mitunter komplizierte Biografien.

Erst wollten Schhads Eltern nicht, dass sie Fußball spielt, dann nicht gegen Jungs. Jetzt schauen sie ihr regelmäßig zu

Schhad zum Beispiel, die Wortführerin in der Kabine, zwölf Jahre alt, ein Mädchen mit dunklen und aufmerksamen Augen: Als Jemeniten waren sie und ihre Familie nicht mehr erwünscht in Saudi-Arabien, sie sind Leidtragende eines Krieges, über den in Europa kaum jemand redet. Vor drei Jahren flüchteten sie mit dem Boot übers Meer, zu Fuß hunderte Kilometer quer durch Europa. Schhad wusste nur wenig über die Region, die bald ihr Zuhause sein würde. Doch eines wusste sie genau: In Europa kicken all jene Ausnahmekönner, die sie seit Kindestagen im Fernsehen bewundert hat. "Das hat es leichter für mich gemacht", sagt Schhad. Ihre Eltern waren anfangs dagegen, dass sie in Deutschland mit dem Fußballspielen anfängt, dann wollten sie nicht, dass Schhad gegen Jungs antritt. Mittlerweile schauen Schhads Eltern regelmäßig bei den Spielen vorbei.

Fußball ist ein Sport, der auf der Straße und in engen Turnhallen, aber auch in gold-glitzernden Multifunktionsarenen gespielt wird. Die Erzählung der globalen Unterhaltungsindustrie Fußball lautet: Die Straße braucht den Glamour, die Glamourkicker inspirieren die Kicker von der Straße. Gerade beim Weltfußballverband Fifa hat man es oft nicht so mit der Wahrheit, aber an dieser Gleichung ist schon was dran. Mina bewundert Messi, Chahidas Idol ist Neymar, Britney schwärmt für Mbappé. Mehr Glitzer geht nicht. Die Stars und die Harras Ladies mögen zwar in unterschiedlichen Galaxien leben. Für die Mädchen sind diese Stars aber eben auch echte Animationskünstler: Sie animieren sie, Fußball zu spielen.

Rüdiger Heid hat die Initiative "Bunt kickt gut" ins Leben gerufen. Heute organisiert er Turniere - mit großem Erfolg. (Foto: Johannes Simon)

Draußen ertönt die Schlusssirene, das nächste Spiel steht an. Die Harras Ladies gegen die KIG Allstars, technisch gute Gegner, aber körperlich gibt es robustere Teams im Teilnehmerfeld. Zwölf Mannschaften treten an diesem Sonntag an, aufgeteilt in vier Gruppen, bei einer weiteren Niederlage würden die Mädchen den Einzug in die Playoffs verpassen. Immerhin, in der Halle sind die Sympathien klar verteilt: Oben auf der Empore drängen sich die restlichen Spieler, die Harras Ladies wollen sich alle anschauen. Vorhin, bei der Vorstellung der Mannschaften, bekamen sie anerkennendes Gejohle und donnernden Applaus.

Das war nicht immer so. Als sie in der Liga starteten, hatten die Jungs sie kein bisschen ernst genommen, vor den Partien gab es Provokationen und Häme: Haha, die können doch eh nix, diese zartbesaiteten Mädels. Zuerst setzte es auch herbe Niederlagen, 0:6, 0:7, 0:8. Mittlerweile haben sich die Harras Ladies Respekt verschafft, weil sie einen Stil pflegen, der gerne mit dem Begriff "Männerfußball" umschrieben wird. Respekt ist das höchste Gut im Straßenfußball.

Anpfiff, die Harras Ladies konzentrieren sich auf die Defensive, wie immer. Hinten verteidigen drei der Mädels, Mina gibt die einsame Spitze. Sie spielen körperlich und nehmen jeden Zweikampf an. Schhad drückt einen Gegenspieler mit der Schulter weg, behauptet den Ball, passt nach vorn - aber da steht niemand, der Ball ist weg. Hinten stehen sie solide, doch die Angriffe zerfasern wie ein alter Putzlappen. Auf Dauer ist der Druck der KIG Allstars zu hoch. 0:1, 0:2. Nach dem Spiel kommt ein Gegenspieler zu den Harras Ladies, er streckt die Hand aus, aber grinst aufreizend. Einige Mädels reichen ihm ihre Hand, die anderen ignorieren den Jungen. Anerkennung oder Häme: Unter Fußballern ist das manchmal auch eine Frage der Perspektive.

Gelebte Integration über den Sport: Der Fußball vereint, überwindet Grenzen und führt Jugendliche zusammen. (Foto: Johannes Simon)

Warum spielen sie nicht einfach gegen andere Mädels, so wie alle anderen auch? Es war immerhin das Jahr des Frauenfußballs, die Deutschen schafften es im Sommer ins EM-Finale, es schauten mehr Menschen zu als bei den WM-Vorrundenspielen der Männer. Auch die Harras Ladies haben bei den Frauen hin und wieder eingeschaltet, durchaus interessiert, aber elektrisiert hat sie das Turnier nicht. Sie kannten die Spielerinnen einfach nicht.

Auch wie der Fußball in Deutschland häufig betrachtet wurde, können sie nicht recht nachvollziehen: Dauerdebatten um eine Binde, die permanente Moralisierung des Sports. Die Vorsitzende des deutschen Ethikrats etwa verordnete ihren Kindern, dass sie eine Spende abdrücken müssen für jedes WM-Spiel, das sie schauen. Eine Schuldirektorin der Mädels hat das auch so gemacht. Die Harras Ladies verstehen die Intention dahinter, die "Message" sei ja richtig, sagen sie. Nur: Ein Ablasshandel fürs Fußballgucken? Aus Sicht der Mädchen beschwert sowas die Unschuld des Spiels, so kennen sie das aus ihrer Heimat nicht. Und auch sie haben von den Zahlen gehört: In Deutschland haben zwar weniger Menschen bei der WM zugesehen als sonst. Im Rest der Welt sind die TV-Quoten aber in die Höhe geschossen. Dabei stellt Deutschland nicht einmal mehr ein Prozent der Weltbevölkerung. Deutschland ist nur ein kleiner Teil einer sehr großen Welt.

Zurück in der Kabine, es geht zur Sache bei den Mädels. "Wir müssen uns mehr trauen", kritisiert Shahida, sie tritt ihre Tasche zur Seite. Sie meint: weniger Riegeltaktik, mehr Offensive. "Was bringt das?", entgegnet Merem: "So ist die Gefahr größer, dass wir wieder so viele Tore reinkriegen. Und dann lachen uns wieder alle aus." Nach einer hitzigen Diskussion einigen sie sich darauf, dass sie erst einmal so weitermachen.

Die Harras Ladies werden auch das nächste Spiel verlieren, diesmal 0:3 gegen die Mannschaft Somborella Jr. Danach werden sie schnell ihre Sachen packen, in den Bus steigen und nach Hause fahren, weil sie noch etwas sehen wollen: Das WM-Finale, Messis Triumph, drei Treffer von Mbappé. Zwei Tage später werden sie wieder in die Halle kommen und trainieren. Das erste Tor fällt bestimmt.

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