HSV im Topspiel gegen Kiel:Auf dem Weg zum Zweitliga-Dino

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Mit Kiel bald in Liga eins - dabei war Lewis Holtby (beim Schuss) einst das Gesicht des Niedergangs beim HSV. (Foto: Joern Pollex/Getty Images)

"Jetzt hilft nur noch ein Wunder": Das 0:1 gegen fast aufgestiegene Kieler verdeutlicht noch einmal jegliche Unzulänglichkeiten des HSV in den vergangenen Jahren - bald dürfte sogar der einst weggeschickte Lewis Holtby einen späten Triumph feiern.

Von Thomas Hürner, Hamburg

Vielleicht sollten sie beim Hamburger SV einfach mal Neil Warnock um Rat bitten. Warnock ist ein berüchtigter Raubein-Coach aus dem englischen Sheffield, aber am wertvollsten wäre er für den HSV gerade als eine Art Mittelsmann. Denn Warnock weiß, wo die nachhaltigsten Erfolgsstrategien entwickelt werden: in den Träumen seiner Frau. Berühmt etwa ist die Geschichte, nach der Mrs. Warnock vor einem Spiel davon geträumt hat, dass der Rechtsverteidiger in Mr. Warnocks Team zum Stürmer umfunktioniert wurde und ein wichtiges Tor schoss. Warnock stellte daraufhin seinen Rechtsverteidiger Danny Butterfield als Stürmer auf - und der beließ es im realen Ligaspiel dann nicht nur bei einem Tor, es wurde ein fabulöser Hattrick binnen sechs Minuten. "Der ist irre", sagte Butterfield hinterher über Trainer Warnock.

Und damit zum wahrscheinlich größten Irrsinn des deutschen Fußballs, dem HSV.

0:1 haben die Hamburger am Samstag im Zweitliga-Spitzenspiel gegen Holstein Kiel verloren; der Einsatz von schwarzer Magie oder wenigstens eine von Mrs. Warnock übermittelte Gewinnervision erscheint somit unvermeidbar, damit in der Hansestadt noch jemand an den Aufstieg glaubt. Oder besser: um noch an irgendwas zu glauben, was diesen früher mal so stolzen Traditionsklub betrifft. Kiel, der Zweitliga-Tabellenführer und von Hamburg aus lange als nördlicher Provinzklub verlacht, ist durch den Sieg stabile zwölf Punkte davongezogen. Auf Fortuna Düsseldorf, das den Relegationsplatz drei besetzt, fehlen sechs Punkte und 16 Treffer beim Torverhältnis - bei noch vier Spielen müssten selbst Institute für angewandte Mathematik wilde Formeln entwickeln, um eine noch wildere Aufholjagd noch möglich erscheinen zu lassen.

Auf dem Rasen hat sich der HSV in unschöner Regelmäßigkeit selbst entlarvt

Immerhin: Steffen Baumgart, der Trainer, der seinen Job im Februar mit klarer Aufstiegsmission angetreten war, dürfte somit endgültig bei jenem Klub angekommen sein, aus dem kaum einer heil herauskommt. Mit Blick auf die Gesamtlage sei er "Realist", sagte Baumgart, der darauf verzichtete, seinen Rechtsverteidiger als Stürmer aufzubieten. Dafür hat der Coach den wegen Verletzung unpässlichen Topscorer Laszlo Benes durch Levin Öztunali ersetzt, der seit seiner sorgfältig inszenierten Rückkehr im vergangenen Sommer mehr für repräsentative Zwecke als fürs Toreschießen da ist. Öztunali ist ein HSV-Eigengewächs und der Enkel von Uwe Seeler; diese Personalie erzählt deshalb auch einiges darüber, wie diese Mannschaft zusammengebaut und in diesem Klub gearbeitet wurde: Nach außen wurde immer ein strahlend-rührseliges Bild verkauft. Aber auf dem Rasen hat sich der HSV dann in unschöner Regelmäßigkeit selbst entlarvt.

Es ist schon eine spannende Anekdote dieser so anekdotenreichen Saison, dass am Samstag ausgerechnet Lewis Holtby den Kieler Siegtreffer (59. Minute/Tom Rothe) vorbereitete und den Hamburgern durch seinen Platzverweis (73./Gelb-Rot) noch mal die eigene Ratlosigkeit vor Augen führte. In Überzahl entwickelten die Hamburger nicht den Hauch einer Gefahr, dafür steigerten sie mit jedem unsauberen Pass und jedem klobig geführten Zweikampf die Verzweiflung im Stadion, bis aus Verzweiflung irgendwann Häme wurde. Kein Wunder, denn direkt vor den leiderprobten HSV-Fans materialisierte sich eine Art Sketch über die vergangenen Dürrejahre: Holtby, beim HSV 2018 so etwas wie das Gesicht des Abstiegs, dürfte nun nach Lage der Dinge vor dem HSV wieder aufsteigen.

Abgegeben hat ihn 2019 der Hamburger Sportvorstand Jonas Boldt, der mittlerweile fast jede Versuchsanordnung für diesen Klub durchprobiert haben dürfte: Unter seiner Führung hat's der HSV mit dem geruhsamen Trainer Dieter Hecking versucht, mit gestandenen Haudegen wie Stürmer Simon Terodde und Torwart Sven Ulreich, mit einem "Weg der Entwicklung" unter dem unbelehrbaren Offensivverfechter Tim Walter, bis er über Umwege jüngst beim bissigen Baumgart gelandet ist. Funktioniert hat nichts davon - zumindest nicht so, dass seine Kernaufgabe, das Organisieren von sportlichem Erfolg, als erfüllt angesehen werden kann.

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"Jetzt hilft nur noch ein Wunder", sagte der Hamburger Stürmer Robert Glatzel und schaute dabei reichlich desillusioniert. Denn auch Glatzel dürfte registriert haben, was am Samstag mal wieder nicht zu übersehen war: Baumgart war von Boldt in einer Hauruckaktion für eine Hauruck-Aufstiegsmission akquiriert worden, aber statt eines sogenannten "Trainereffekts" zeigt sich nun Woche für Woche, dass eine Mannschaft und ihr Vorgesetzter offenkundig dramatisch aneinander vorbeileben. Sobald Führungsspieler wie der Abwehrmann Sebastian Schonlau oder Mittelfeldmann Jonas Meffert nach Pleiten Stellung beziehen, hört man in jeder Silbe auch ihren früheren Trainer Walter aus ihnen sprechen. Baumgart hat zwar etwas Ordnung in das mitunter irritierende Durcheinander seines Vorgängers gebracht - verloren gingen dafür aber jene Inspiration und Kratzbürstigkeit, die auch unter Walters schärfsten Kritikern stets auf dessen persönlicher Verdienstliste abgeheftet worden waren.

Die Zukunft von HSV-Sportvorstand Boldt erscheint fraglich

Sportvorstand Boldt hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass er sein Bestes tut, um als verantwortungsbewusster Chef zu wirken, aber während seiner für HSV-Verhältnisse fast schon irritierend langen Dienstzeit hat ihn offenbar sein Instinkt verlassen: Unangenehme Entscheidungen wurden getroffen, wenn sie nicht mehr vermeidbar waren; kleine Erfolge wurden öffentlich mitunter zu großen Triumphen aufgebauscht. Und inzwischen kann man den Verantwortlichen unterstellen, dass sie in diesem Wust aus PR-Botschaften selbst den Überblick verloren haben: Auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung etwa sprach der sonst hervorragend beleumundete Finanzchef Eric Huwer den bemerkenswerten Satz, dass sein Vorstandskollege bedauerlicherweise stets am "kurzfristigen Erfolg" gemessen werde. Dabei dürfte Huwer, ein Mann der Zahlen, wissen, dass Boldt nun schon ein halbes Jahrzehnt lang beim HSV herumwerkelt. Das wäre schon bei konventionellen Klubs eine halbe Ewigkeit, beim HSV ist es mindestens eine ganze. Eine Weiterbeschäftigung Boldts über den Sommer hinaus darf als nahezu ausgeschlossen gelten.

Auf erwähnter Mitgliedsversammlung wurde übrigens mal schnell ein 30-Millionen-Euro-Darlehen des Investors Klaus-Michael Kühne in Eigenkapital verwandelt, das sagt einiges über die Möglichkeiten des HSV im Vergleich mit der Zweitliga-Konkurrenz aus. Deshalb zum Schluss noch ein Fakt: Sollten Kiel und Stadtrivale FC St. Pauli aufsteigen, würde der HSV als der Verein mit der längsten Unterhaus-Zugehörigkeit am Stück zurückbleiben. Wie ein echter Zweitliga-Dino.

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