Interview:"Wir zahlen jetzt die Zeche"

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Mann der klaren Worte: Carsten Bissel, 57, Aufsichtsratschef des HC Erlangen, fiebert mit seiner Mannschaft im Heimspiel gegen den TBV Lemgo Lippe. (Foto: Wolfgang Zink /Imago)

Carsten Bissel, Aufsichtsratschef des Handball-Erstligisten HC Erlangen, spricht über das wichtigste Spiel in der Vereinsgeschichte, die Entlassung des beliebten Trainers Michael Haaß und seinen Ärger über die Europameisterschaft.

Von Ralf Tögel

SZ: Die EM ist vorbei, der Alltag zurück, am Samstag steigt der HC Erlangen mit dem Pokal-Viertelfinale in Gummersbach wieder in den Spielbetrieb ein. Wie geht es der Mannschaft?

Carsten Bissel: Was ich aus dem Training so höre, ganz gut.

Und den vier EM-Fahrern Christoph Steinert, Sebastian Firnhaber, Petter Overby und Hampus Olsson?

Die sind natürlich nicht topfit, aber auf dem Weg der Besserung. Ich bin vorsichtig mit Prognosen, erinnern Sie sich an die EM, da war Steinert erst positiv, dann negativ und wieder positiv. In diesen Zeiten ist es einfach unmöglich vorherzusagen, wer letztlich in welchem Zustand auflaufen kann.

Zumindest Steinert sollte nach seinen Leistungen bei der EM mit breiter Brust auflaufen.

Das werden wir sehen. Entweder es gibt ihm einen Push, oder er ist noch geschwächt. Immerhin hatte er ja kürzlich das Virus in sich.

In Sachen Selbstvertrauen wohl Ersteres?

Ja, aber braucht er das? Er hat ja in der Bundesliga jahrelang nicht anders gespielt als nun bei der EM, das vergisst man schnell. Er war und ist ein sehr guter Spieler.

Bei Firnhaber dürfte es anders aussehen, er hat nicht gespielt, sich dafür eine Infektion eingefangen.

Auch er hat mindestens eine Woche Corona hinter sich, inwieweit ihn das schwächt, ist die Frage. Es kann sich aber auch so auswirken, dass er sagt: Endlich kann ich wieder spielen, ich habe richtig Lust drauf, und jetzt zeige ich es allen.

Wie sehen Sie Firnhabers EM-Nachnominierung im Nachgang?

Natürlich sind wir überhaupt nicht glücklich, wie man mit ihm umgegangen ist. Ich finde es unfassbar, dass ein Spieler einfach mal als Reserve der Reserve nach Bratislava nachgeholt wird, sich dort eine Woche ins Hotelzimmer setzen muss, keine Sekunde trainiert, keine Sekunde spielt und als er zwei-, dreimal aus seinem Zimmer rauskam, sich auch noch infiziert hat. Er wurde uns untrainiert und krank zurückgeschickt.

Auch Hampus Olsson wurde von den Schweden nachgeholt und hat nicht gespielt.

Da hat man aber gesehen, wie man mit so einem Fall umgehen kann. Olsson wurde geholt, als er gebraucht wurde, als das nicht mehr der Fall war, wurde er sofort wieder heimgeschickt. Ein solch verantwortungsvolles Verhalten sucht man bei dem ein oder anderen im deutschen Verband vergebens. Manchem dort sind Vereine wie der HC Erlangen, so hat man immer wieder den Eindruck, völlig egal.

Erst Corona-positiv, dann negativ und wieder positiv: Erlangens Christoph Steinert (Mitte) musste bei der EM in Bratislava, wo er starke Leistungen bot, durch ein Wechselbad der Gefühle. (Foto: Nebojsa Tejic/Kolektiff/Imago)

Gab es Rückmeldung vom Deutschen Handballbund, der ja immer betont hat, wie er die Unterstützung aus der Bundesliga schätzt?

Ich habe mit einzelnen Personen vom DHB darüber gesprochen, die mir auch Verständnis für unseren Ärger entgegengebracht haben.

Wie geht es Petter Overby? Norwegen war Geheimfavorit und musste nach der Hauptrunde abreisen.

Das hat er verdaut, aber auch er ist körperlich noch nicht in Bestform.

Also könnte sich die EM noch als Hypothek erweisen?

Absolut.

Macht Sie das als Vereinschef sauer?

Ich bin hin- und hergerissen. Auf der einen Seite sind wir natürlich stolz, wie toll etwa Steinert unseren Verein vor jeweils fünf Millionen Fernsehzuschauern repräsentiert hat. Und auch, dass wir mit vier Spielern in den Top-Mannschaften bei der EM vertreten waren. Auf der anderen Seite zahlen wir jetzt vielleicht die Zeche dafür.

Gummersbach dürfte es ähnlich gehen, sie hatten in Julian Köster, dem Isländer Ellidi Vidarsson, dem serbischen Torhüter Tibor Ivanisevic und den Österreichern Alexander Hermann und Janko Bozovic fünf Spieler bei der EM. Der Isländer und die Österreicher kamen infiziert heim. Ist das eine Schwächung?

Wie gesagt, das kann man nicht seriös einschätzen. Diese Ungewissheit trifft doch derzeit alle Mannschaften. Kiel hat beispielsweise aktuell viele infizierte Spieler und weiß nicht, welche Mannschaft im Pokal am Sonntag auflaufen kann.

In jedem Fall werden Sie mit einem neuen Trainer auflaufen. Vor der Saison haben Sie noch von Michael Haaß geschwärmt und seinen Vertrag vorzeitig um zwei Jahre bis 2024 verlängert. Vor der EM-Pause wurde er beurlaubt. Warum?

Wir haben seit dieser Zeit eine Entwicklung gesehen, die unsere Entscheidung aus dem Sommer leider nicht bestätigt hat.

Sie sprechen von den Leistungsschwankungen. Auf tolle Spiele folgten herbe Niederlagen, wie zuletzt in Leipzig.

Zuerst einmal will ich festhalten, dass Michael Haaß ein ausnehmend liebenswürdiger und netter Mensch ist, ein Gentleman. Man kann ihm persönlich nicht viel vorwerfen. Aber auffällig war, dass wir nach Spielen, in denen wir überzeugt haben, immer wieder in eine große sportliche Zufriedenheit abgedriftet sind.

Haaß hat mit neun Akteuren im Kader selbst noch zusammengespielt. War er zu nah an der Mannschaft?

Es gab nicht den einen Grund, sondern eine Vielzahl von Gründen, die sich über die Monate entwickelt haben. Einen herauszunehmen, wäre unseriös. Die Tendenz ging nicht mehr in die Richtung, die wir uns vorgestellt haben. Auch unsere Vorstellungen über die Zukunft haben sich einfach nicht mehr gedeckt.

Also der klassische Fall von gezogener Reißleine?

Man darf nicht glauben, dass wir eine so schwere und grundsätzliche Entscheidung aktionistisch an einem Tag fällen. Oder dass der letzte Eindruck der Niederlage in Leipzig ursächlich war. Wir haben immer wieder nach jedem Spiel die Situation analysiert und sind letztendlich zu dem Schluss gekommen, dass wir uns die Entwicklung anders vorgestellt haben und keine Besserung in Sicht ist.

Wer sind wir?

Eine Gruppe von Leuten, die sich tagtäglich mit dem HC Erlangen befasst, aus dem Verein und darüber hinaus. Selbstverständlich waren Geschäftsführer, sportlicher Leiter und mit dem Sport befasste Personen der Gremien dabei. Alles Leute, die sich mit dem professionellen Sport wirklich auskennen und große Erfahrung, gerade in Dingen wie der Führung einer Mannschaft, mitbringen.

Und der Konsens war, den Trainer zu entlassen?

Wir haben nicht nur über den Trainer diskutiert, sondern auch mit ihm. Der HC Erlangen ist ein breit aufgestellter Verein, auch wenn es manchmal nach außen nicht so wirken mag. Wir wollen bei wichtigen Themen alle mitnehmen, da kommt es nicht so auf die Ämter an. Das wurde nicht aus dem Elfenbeinturm heraus entschieden, sondern gemeinsam, auch mit dem Trainer, diskutiert. Aber auch in dem letzten abschließenden Gespräch mit Haaß sind wir einfach auf keinen gemeinsamen Nenner gekommen.

Lag das letzte Wort beim Aufsichtsrat?

Nein. Der kann diese Entscheidung gar nicht treffen, rein formal kann das nur die Geschäftsleitung. Noch mal: Bei uns handelt in solchen Dingen nie alleine der Geschäftsführer oder der Sportdirektor, der Aufsichtsrat schon gar nicht. Wenn einer aus diesem Kreis der Auffassung gewesen wäre, die Beurlaubung ist der falsche Weg, wäre es nicht dazu gekommen.

Haaß hat noch Vertrag, ist beliebt, war vorher Jugendtrainer und gilt als Talententwickler. Bleibt er im Verein?

Zu vertraglichen Inhalten kann ich natürlich nichts sagen, aber Sie können mir glauben, dass wir uns viele Gedanken gemacht haben. Wir sind weiter im Gespräch.

Sportdirektor Raul Alonso hat nun übernommen. Er war Trainer des weißrussischen Champions-League-Klubs Brest, keine schlechte Interimslösung.

Er ist im vergangenen Mai als Sportdirektor zu uns gekommen und hilft uns gerne in dieser Situation, aber ein neuer Trainer von außerhalb war sofort die erste Option.

Gibt es Namen?

Es wurde eine Liste erstellt, mit den üblichen Verdächtigen und dazu vielen Namen, die ich persönlich gar nicht kenne. Die Liste wird von der sportlichen Leitung abgearbeitet.

Aber was spricht gegen Alonso?

Ich persönlich hätte gar nichts dagegen, dass er weiter Cheftrainer und Sportdirektor in Doppelfunktion bei uns bleibt. Ich hätte ein gutes Gefühl mit ihm als Trainer.

Zurück zum Pokalspiel in Gummersbach, dem wichtigsten Spiel der Klubgeschichte, wie Ihr Geschäftsführer René Selke sagte. Beim Zweitligisten sollte ein Sieg drin sein?

Der VfL Gummersbach hat seit 20 Heimspielen keinen Punkt mehr abgegeben und hatte fünf Spieler bei der EM, also mehr als wir. Gummersbach ist in der zweiten Bundesliga mit großem Abstand Erster, die stehen in der Leistungsfähigkeit nicht hinter uns. Das hat mit zweiter Liga nichts zu tun, ein Auswärtsspiel in Gummersbach ist sicher nicht das leichteste Los. Ein Heimspiel gegen einen Mittelfeld-Bundesligisten vor unseren Fans wäre nicht schwerer.

Das klingt nach dem Pfeifen im Walde.

So etwas sagen nur Leute, die keine Ahnung von der Materie haben. Haben Sie Julian Köster bei der EM spielen sehen?

Ja, aber Gummersbach mit Köster ist doch wohl immer noch das bessere Los als Magdeburg, Kiel, Lemgo oder Melsungen?

Das weiß ich nicht. Ich glaube, in Gummersbach ist es nicht einfacher als zu Hause gegen einen unserer direkten Ligakonkurrenten. Neben der stark besetzten Mannschaft stehen wir seit den Öffnungen für Zuschauer vergangenen Mittwoch in Nordrhein-Westfalen gut 1400 Fans gegenüber, das ist nicht zu unterschätzen. Allerdings haben davon auch etwa 200 Erlanger Fans Tickets ergattert. Und die sind auch nicht zu unterschätzen.

Wir groß wäre der Schaden, wenn der HC Erlangen aus dem Pokal fliegt?

Welcher Schaden? Rein wirtschaftlich?

Zum Beispiel.

Nicht sehr groß.

Und vom Image her?

Der HC Erlangen wurde ja nicht für ein Spiel im Viertelfinale des Pokals aufgebaut. Es wäre aber sehr schade, weil wir nie so nah am Final Four waren wie jetzt. Niemand hatte damit gerechnet, dass wir uns in den ersten Pokalrunden gegen Topteams wie Flensburg und Wetzlar durchsetzen. Klar ist, dass vom Zeugwart bis zum Trainer jeder das Spiel gewinnen will. Auch ich.

Blicken wir noch kurz auf die zweite Saisonhälfte: In Kim Sonne-Hansen kommt ein Champions-League-erfahrener Torhüter aus der ersten dänischen Liga schon zur Rückrunde, Lutz Heiny vom Ligakonkurrenten Lübbecke und das Schweizer Spielmacher-Talent Manuel Zehnder aus Aarau sind für die kommende Saison verpflichtet. Ist der Kader nicht stark genug?

Den Transfer von Sonne-Hansen darf man nicht zu hoch hängen. Er soll uns in diesen unsicheren Corona-Zeiten mehr Sicherheit im Tor geben. Dann haben wir ein paar junge kampfstarke Spieler geholt, die uns nächstes Jahr die Möglichkeit geben sollen, den Konkurrenzkampf zu erhöhen, der in vielen Spielen gefehlt hat.

Mehr nicht? Der ehemalige Nationalspieler und jetzige TV-Experte Stefan Kretzschmar hat den HC Erlangen in der Nähe der MT Melsungen verortet. Muss man nicht langsam die Ziele höher stecken?

Wenn einer den HC Erlangen wirtschaftlich in der Nähe der MT Melsungen sieht, ist er entweder im Land der Ahnungslosen unterwegs, oder er will uns bewusst beschädigen. Wir sind vom Etat immer noch im letzten Drittel der Liga angesiedelt und haben einen Kader mit vielen Spielern, die wir aus der zweiten Liga geholt oder selbst entwickelt haben, wie beispielsweise Antonio Metzner oder Christopher Bissel. Wir haben zum Beispiel Petter Overby 2017 für wenig Geld aus Kopenhagens Insolvenzmasse geholt, der jetzt nach Kiel geht. Natürlich haben wir in Klemen Ferlin, Simon Jeppsson und Steffen Fäth drei Spieler, die nach außen wie Leuchttürme wirken. Die haben Konkurrenten wie Stuttgart, Balingen, Minden oder Wetzlar auch. Und Leipzig und Göppingen sind uns mittlerweile ein ganzes Stück wirtschaftlich voraus.

Also sind Sie mit dem derzeitigen Abschneiden als Tabellen-13. zufrieden?

14 Punkte sind natürlich nicht das, was wir uns wünschen. Wir sind ehrgeizig und wollen einen weiteren Schritt nach vorne machen. Und wir haben bisher nicht alles rausgeholt aus dem Team.

Mittlerweile sind wieder ein paar Zuschauer erlaubt, dennoch waren es zwei schwere Jahre. Wie geht es dem HC Erlangen?

Wir hatten wie jeder andere Verein ein paar Aufgaben wirtschaftlicher Art zu bearbeiten. Aber dank der Unterstützung der vorher angesprochenen Community sind wir breit aufgestellt und bekommen viel Unterstützung in Erlangen und in der Metropolregion Nürnberg. Bleibt das so, halten sich unsere Sorgen in Grenzen.

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