Härte bei der Fußball-WM:Wenn das Spiel zur Schlacht wird

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Mit der Hand ins Gesicht: Klaas-Jan Huntelaar (links) gegen Costa Ricas Keylor Navas. (Foto: AP)

Was bleibt von dieser Fußball-WM? In Brasilien haben sich die Nationalteams von der Idee verabschiedet, schönen Fußball zu spielen. Es geht nur noch ums Gewinnen - notfalls auch ganz brutal.

Ein Kommentar von Claudio Catuogno, Rio de Janeiro

Dass es ordentlich knallt, gehört in Brasilien zum Fußball dazu. Wenn die Nationalmannschaft, die Seleção, ein Tor schießt, muss man nur etwa zehn Sekunden darauf warten. So lange, wie es eben dauert, einen Kanonenschlag anzuzünden und aus dem Fenster zu werfen. Dann hallt die Detonation von hunderttausend Böllern durch Rio, São Paulo und Salvador. Und wenn die Seleção ihr Spiel gewonnen hat, folgt in den Straßen eine lange, laute Nacht. Normalerweise.

Ein Land steht unter Schock, das sagt sich immer so leicht. Meistens ist es übertrieben, und auch am Wochenende nach der schweren Verletzung ihres Fußballlieblings Neymar, 22, changierten die Brasilianer längst wieder irgendwo zwischen Wut, Trotz und Fatalismus. Aber am Freitagabend war der kollektive Schock für einen Moment spürbar. Als die Diagnose über die Bildschirme flimmerte, war da statt Böllern plötzlich Stille. Zu monströs war dieses Wort: "Lendenwirbelbruch".

Auch im Viertelfinalspiel zwischen Brasilien und Kolumbien hatte es geknallt. Eigentlich 90 Minuten lang. Der spanische Schiedsrichter pfiff die ungewöhnlich hohe Zahl von 54 Fouls, und viele Zweikämpfe, die er ebenfalls hätte abpfeifen müssen, ließ er weiterlaufen. In der 86. Minute sprang dann der Kolumbianer Juan Zúñiga dem Brasilianer Neymar mit dem Knie voraus gegen die Wirbelsäule.

Verletzungen bei der Fußball-WM
:Verdammter Querfortsatz

Ein Bruch am Lendenwirbel, ganz Brasilien weint. Neymar ist der prominenteste Name auf der Verletztenliste. Doch auch andere Profis erlebten wegen unterschiedlicher Wehwehchen eine verkürzte Fußball-WM. Ein Überblick.

Man hat schon viele Spieler weinen sehen bei diesem Turnier, aus Trauer oder aus Erleichterung. Die Tränen werden von den Regisseuren des sogenannten Weltbilds gerne in Großaufnahme gezeigt. Tränen machen das Ereignis noch größer, als es ohnehin schon ist. Sie beweisen: Die Fußballer, die hier antreten, kehren ihr Innerstes nach außen, sie geben alles für den Sieg, sie tragen schwer an der Niederlage. Neymar schrie nun vor Schmerz. Und die Frage ist, ob seine schwere Verletzung die Folge eines Trends ist, den die Akteure selbst herangezüchtet haben. Des Trends, dass der Fußball vom Spiel zur Schlacht wird.

Die Schiedsrichter halten sich raus, solange es irgendwie geht

Die Brasilianer haben für ihr Ideal vom verspielten, technisch feinen Fußball einst einen klingenden Begriff geprägt: "Jogo bonito", das schöne Spiel. Aber das Jogo bonito lebt nur noch in der Erinnerung, in der aktuellen Elf gibt es kaum filigrane Techniker, Neymar war da eine Ausnahme. Dafür gibt es Kämpfer und Rackerer, und so fegen sie nun über ihre Gegner hinweg, mehr mit Wucht als mit Eleganz. Die Gegner wehren sich mit ähnlichen Mitteln. Sogar die Deutschen, deren Trainer Joachim Löw das schöne Spiel quasi im Spitznamen trägt ("Jogi bonito"), haben sich von dem Gedanken verabschiedet, in Brasilien mit jener modernen Fußballkunst zu reüssieren, auf die sie seit einigen Jahren so stolz waren. Auch sie wollen diesmal nur gewinnen, egal wie.

Der WM hat das bisher nicht schlecht getan. Die Emotionalität, die Spannung, zum Teil auch das technische Niveau der Spiele sind außergewöhnlich. Viele sagen: So eine attraktive WM gab es noch nie. Das Problem ist nur: Die Schiedsrichter halten sich weitgehend raus. Man muss davon ausgehen, dass der Fußball-Weltverband diese Rückkehr zum Archaischen aktiv befördert hat, sonst wäre dieser Trend nicht so einschneidend. Gelbe Karten? Platzverweise? Nur, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt. Gladiatorenkämpfe hat doch auch keiner abgepfiffen, kurz bevor die Streitwagen ineinander gerauscht sind.

Neymar ist jetzt wenigstens wieder auf den Beinen, er kann sogar Videobotschaften aufnehmen. Er wird seine Elf gegen die Deutschen anfeuern, im Halbfinale am Dienstag. Deutschland gegen Brasilien, zwei Teams, die den Titel wollen, um fast jeden Preis. Man muss hoffen, dass der Schiedsrichter sie dennoch zwingt, Fußball zu spielen, anstatt sich zu bekämpfen.

© SZ vom 07.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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