Finale der Frauen in Wimbledon:Metamorphosen auf dem Rasen

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Transformationen: Das "neue Ich" von Ons Jabeur gewinnt ein Match, welches das "alte Ich" verloren hätte. (Foto: Glyn Kirk/AFP)

Im Endspiel duellieren sich die Tunesierin Ons Jabeur und die Tschechin Marketa Vondrousova. Beide verfügen über ein Künstlerhändchen - und haben Monate des Trübsinns hinter sich.

Von Barbara Klimke, London

Es gibt eine Tennisepisode aus dem vorigen Jahr, die Ons Jabeur nicht verkraftet. Wann immer sie die Szenen betrachten soll, ringt sie um Fassung. "Ich kann mir das nicht anschauen", hat sie diese Woche gesagt. "Ich finde das sehr schwierig. Bis heute habe ich das Match nicht noch einmal gesehen." Dieses Match, das Wimbledonfinale 2022 auf dem Centre Court vor einem Millionenpublikum am Fernsehen, hätte der Höhepunkt ihrer Karriere werden sollen: Als erste Frau aus Tunesien, aus dem arabischen Raum, aus Afrika hätte Ons Jabeur aus Ksar Hellal bei Monastir das berühmteste Tennisturnier der Welt gewinnen können. Sie ahnte, wie weit das Echo geschallt hätte, sportlich und gesellschaftlich. Dann versagten ihre Nerven.

Marketa Vondrousova aus Sokolov in Tschechien verbindet ebenfalls nicht die erhebendsten Erinnerungen an jenen Julitag. Die Finalistin der French Open 2019 war nur als Touristin auf die Insel gereist, um einer Freundin moralisch beizustehen, die sich durch die Wimbledon-Qualifikation geschlagen hatte. Die Zeit verbrachten sie mit Shopping, Stadtspaziergängen und einem Besuch des London Eye, des Riesenrads. Den linken Arm, ihren Schlagarm beim Tennis, trug Vondrousova in einer Schlinge. "Man weiß nie, wie es nach so einer Verletzung weitergeht", sagte sie. Ihr Beruf stand auf dem Spiel.

An diesem Samstag stehen sich Ons Jabeur, 28, und Marketa Vondrousova, 24, am Netz gegenüber; erneut wird um den ältesten Preis im Frauentennis gespielt: die 1886 erstmals verliehene Silberschale. Und wenn die Kameras zur Tribüne schwenken, zur Royal Box, in der die wichtigen und sich wichtig nehmenden Menschen sitzen, wenn Netzpfosten aus Teakholz ins Bild rücken, Erdbeeren, Weinlaub an der Fassade, der polierte Glanz dieses sich Jahr für Jahr in seinem Ruhm spiegelnden Turniers, dann wird oft die Trübsal vergessen, durch die sich manche Akteure quälten. Lange bevor das 14-tägige Rasenfestival begann.

Jabeur hat sich Geduld erarbeitet mit der Hilfe einer Mentaltrainerin

Ons Jabeur hat am Donnerstag nach dem Halbfinalsieg gegen die Belarussin Aryna Sabalenka klipp und klar erklärt, dass sie durch einen Transformationsprozess geschritten ist. Und die Wandlung war offenbar gründlich: Äußerlich ist sie noch die alte, aber es stehe eine neue Spielerin auf dem Platz: "Mein altes Ich hätte dieses Match heute verloren", sagte sie. Das "alte Ich" hätte die Heimreise antreten müssen. Das "neue Ich" hingehen fand die Kraft, unter der Wucht der Donnerschläge der Gegnerin nicht einzuknicken. Auch nicht, als Jabeur zehn Punkte nacheinander verloren hatte und 2:4 im zweiten Satz zurücklag. Sie gewann das Duell gegen die Nummer zwei der Welt noch in drei rassigen Sätzen.

Belastungstest: Marketa Vondrousova musste im Vorjahr wegen einer Handgelenksoperation ein halbes Jahr pausieren. (Foto: Susan Mullane/USA Today/Imago)

Der Schlüssel dazu war Geduld. Eine Eigenschaft, über die Jabeur im Vorjahr bei der Finalniederlage auf dem Centre Court von Wimbledon gegen Elena Rybakina nicht in genügendem Maße verfügte, obwohl sie seit Jahren mit einer Mentaltrainerin zusammenarbeitet. Ihr Variantenreichtum im Tennis ist spektakulär, und sie war früher oft versucht, Entscheidungen per Risikoschlag zu erzwingen. Nun hält sie sich an ihr Mantra, an das sie Trainer Issam Jellali und Ehemann Karim Kamoun, ein ehemaliger Fechter, stets erinnern: "Nur Ruhe, keine Angst, die Gelegenheit wird kommen."

Im vergangenen Jahr verlor sie nach dem Wimbledonfinale auch das Endspiel der US Open. Und so endete für Jabeur eine Saison, in der sie weltweit für Erstaunen sorgte als erste arabische Spielerin, die einen WTA-Titel gewann (in Birmingham) und gleich zwei Grand-Slam-Finals erreichte (London, New York), nicht im Jubelfeuerwerk, sondern in der Stille der Desillusion. Zu Beginn dieses Jahres musste sie sich einer Knieoperation unterziehen, dann laborierte sie an muskulären Problemen in der Wade. "Vielleicht haben die Verletzungen mein Tempo gedrosselt und mir geholfen, Geduld zu entwickeln", sagte Jabeurs neues Ich in Wimbledon. "Aber ich habe auch wie verrückt an mir gearbeitet."

Vondrousova trainierte wochenlang mit Softbällen, die für Kindertennis bestimmt sind

Auch Marketa Vondrousova hat eine kleine Metamorphose durchlebt, aber diese ist weitgehend mit der Heilung ihres Handgelenks zu erklären. Im Gegensatz zur Spätstarterin Jabeur hat sie früh auf der Tennistour brilliert und im Alter von 17 Jahren ihren ersten und bisher einzigen WTA-Titel gewonnen. Dann brachten gesundheitliche Probleme sie ab vom projektierten Verlauf der Karriere. Einen Monat nach dem Finale in Roland Garros, das sie 2019 gegen die Australiern Ashleigh Barty verlor, erfolgte die erste Handgelenksoperation, die sie zu einer sechsmonatigen Pause zwang. Im vergangenen Jahr war die zweite OP nötig. Den Gips entfernte sie wenige Tage vor der Hochzeit mit ihrem Jugendfreund Stepan Simek, einem IT-Spezialisten, aber sie konnte danach kaum den Schläger halten. Wochenlang trainierte sie mit Softbällen, die für Kindertennis bestimmt sind. In Wimbledon war sie dankbar, überhaupt wieder spielen zu können, "und noch dazu schmerzfrei".

Sie hat einen erstaunlichen Siegeszug hingelegt und sechs Matches in Serie gewonnen - auf einem Belag, der ihr lange unangenehm gewesen war und auf dem sie in all den Jahren zuvor insgesamt nur vier Matches gewonnen hatte. Im Finale der Championships ist sie nun als Nummer 42 der Weltrangliste die erste ungesetzte Spielerin seit 60 Jahren: seit Billie Jean King 1963.

Vor dem Finale hat sie ein paar Tipps ihrer Freundin und tschechischen Klubkollegin Karolina Muchova eingeholt, die kürzlich im Finale von Paris stand. Ihr Stil ähnelt dem von Ons Jabeur, beide verfügen über ein Künstlerhändchen. Jabeur fasste das Duell so zusammen: "Wir sind beide hungrig auf den Sieg. Wer ihn mehr verdient, der wird gewinnen."

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