Seit sie sich den 100 Metern verschrieben hat, hat Gina Lückenkemper vor Kurzem erst wieder gesagt, sei sie "immer auf die Jagd gegangen". Der Start ist bis heute nicht ihre Paradeübung, was über die 200 Meter, die sie einst so stark lief, nur nie so recht auffiel. Auf der halb so langen Strecke musste sie die anderen jedenfalls immer fangen, "das kenne ich nicht anders", sagte Lückenkemper. Aber am Montagabend in Budapest, im Halbfinale der Weltmeisterschaften, da versagte selbst der geübten Gegnereinsammlerin der Instinkt.
Der Start war gar nicht mal so schlecht, die ersten beiden Plätze, die einen direkt ins Finale befördern, waren so aber schon außer Reichweite. Doch hinter Shelly-Ann Fraser Pryce (die das Halbfinale in 10,89 Sekunden gewann) und Tamari Davis (10,98) war durchaus noch Platz. Nur: In ihrer sonst so starken zweiten Rennhälfte kam Lückenkemper nicht mehr voran, als würde der Bogen klemmen - Platz fünf, noch hinter der Polin Ewa Swoboda (11,01) und der Britin Daryll Neita (11,03). Und der Weg über die zwei letzten Plätze, die über die Zeit in den Endlauf geführt hätten, war nun auch schon versperrt. Die Amerikanerin Sha'Carri Richardson gewann das Finale in atemberaubenden 10,65 Sekunden vor den Jamaikanerinnen Shericka Jackson/10,72 und Fraser-Pryce /10,77).
Als Lückenkemper kurz darauf nach Erklärungen suchte, war ihre Miene angemessen abgedunkelt. Die beiden langsamsten Zeiten ihrer bisherigen Saison hatte sie für die zwei wichtigsten Rennen des Jahres aufgespart, das WM-Finale, das große Ziel, erneut verpasst - das passte nicht zu den Erwartungen, die die 26-Jährige selbst nach oben getrieben hatte. "Der internationale Sprint ist noch mal krasser geworden, ich bin es aber auch", das war ihre Losung das Jahr über gewesen, und es hatte ja gut begonnen, mit 11,00 Sekunden Anfang Mai in Atlanta bis zu 11,03 Sekunden bei den deutschen Meisterschaften Ende Juli in Kassel. Das, fand Lückenkemper, sei "fast schon ein bisschen gruselig".
Andererseits schien die Arbeit in Florida bei Lance Brauman, dem Trainer des neuen 100-Meter-Weltmeister Noah Lyles, nun immer mehr zu fruchten. 2022 hatte sie mit der Sprintstaffel schon WM-Bronze in Eugene gewonnen, kurz darauf EM-Gold mit der Staffel und über 100 Meter. Doch spätestens mit den Meisterschaften in Kassel, als die Saison in die entscheidende Phase rückte, wollten die Zeiten nicht mehr besser werden. Als würde die letzte Stufe einer Rakete nicht mehr zünden.
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Vor der ersten Runde habe sich "im Rücken ein bisschen was verschoben"
Dann, vor der ersten Runde am Sonntag in Budapest, habe sich auf dem Weg vom Aufwärmplatz ins Stadion "im Rücken ein bisschen was verschoben", sagte Lückenkemper. Die Physiotherapeuten hätten das binnen 15 Minuten wieder repariert, aber eben nicht zu 100 Prozent, "und dann traust du dich halt auch nicht so volle Möhre da drauf zu gehen". Den Rücken wollte sie nach dem Halbfinale erst "definitiv nicht als Ursache" geltend machen, beschrieb ein paar Sätze später dann, dass sie sich nicht so aggressiv habe abdrücken können wie gewohnt.
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Da fehlte der Jägerin ihr wichtigstes Werkzeug. "Mir ist so ein bisschen die Hüfte nach hinten verloren gegangen", sagte Lückenkemper, und das sei dann doch "so ein ganz kleines bisschen Rückenproblematik vom Vortag geschuldet" gewesen. So oder so hatte sie nun einiges aufzuarbeiten: Vor allem, weshalb es am Ende fast so klang, als wären ihr im Rennen Körperteile in alle Himmelsrichtungen davongeflogen.
Das Finale, das Lückenkemper verwehrt blieb, erreichten am Montag etwas überraschend zwei andere Deutsche: Henrik Janssen wurde Achter im Diskus-Endkampf (63,80 Meter), Joshua Abuaku zog nach Bestleistung in Runde eins (48,32 Sekunden) in 48,39 ins WM-Finale ein, als erster Deutscher über die Langhürden seit einem gewissen Harald Schmid 1987.