Tennis:Der schönste Schlag von Wimbledon

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Rückhand-Studie: Richard Gasquets Paradeschlag ist einer der schönsten in Wimbledon. (Foto: Adrian Dennis/AP)

Richard Gasquet perfektioniert die einhändige Rückhand, ein Australier brüllt unanständige Flüche und Rafael Nadal macht sein Haus frei. Die heimlichen Gewinner und Verlierer von Wimbledon.

Von Gerald Kleffmann und Lisa Sonnabend, Wimbledon

128 Frauen und 128 Männer traten an, um die Einzeltitel in Wimbledon zu gewinnen. Normalerweise müsste das bedeuten, dass es zwei Sieger und 254 VerliererInnen gab. Bei genauerer Betrachtung finden sich aber einige Gewinner mehr. Und noch mehr Verlierer.

Gewinner des Turniers

  • Kohli

Kohli hat es ins Halbfinale von Wimbledon geschafft, zwar nicht auf den Platz des Centre Courts, aber - auch nicht schlecht - in die königliche Loge. Kohli sah Novak Djokovic am Freitag siegen, er sah auch Roger Federer danach siegen, und dass die dem Vernehmen nach im Privaten sehr amüsante, aber doch irgendwie schreckschraubenhaft auftretende Anna Wintour vor Kohli saß, störte ihn nicht. Indiens berühmter Cricket-Spieler ist allerdings nicht verwandt oder verschwägert mit unserem Kohli. Der hatte es nur zum Auftakt auf den Centre Court geschafft, damals verlor Kohli gegen Djokovic. Aber irgendwie hat sich jetzt trotzdem ein Kreis geschlossen. Der Kohli-Kreis.

  • Einhändige Rückhand

Im Viertelfinale traten sie gegeneinander an: die einhändige Rückhand von Stan Wawrinka, die als die stärkste im Profitennis gilt, gegen die einhändige Rückhand von Richard Gasquet, bei Umfragen meist zur zweitbesten gewählt. Das Publikum raunte, wenn die beiden Profis sich den Ball von Rückhandseite zu Rückhandseite zuspielten: Sie feuerten ihn mit heftigem Drall cross über das Netz, knallten ihn longline ins Feld, spielten mit Slice hauchdünn über die Netzkante oder zogen einfach schnörkellos durch. Schließlich gewann Gasquet den Fünf-Satz-Krimi. Wawrinka schlug die Filzkugel beim Matchball ins Aus - es war ausgerechnet eine einhändige Rückhand.

  • Draw

Das Draw ist großartig, denn das Draw ist der Regisseur jedes Tennisturniers. Die Auslosung gibt vor, wer welchen Weg bis zum Triumph oder bis zum Desaster gehen muss, und einen Umweg, Ausweg oder einen anderen Weg gibt es nicht als den, den das Draw vorgibt. Zwar sagen die Spielerinnen und Spieler immer, sie schauen nicht aufs Draw, aber das muss man nicht so ernst nehmen. Im Rückblick muss man übrigens auch sagen, dass es einige Perlen im Draw gab, die etwas untergegangen sind, weil alle ja dazu neigen, sich für die Topleute zu interessieren oder für die, die aus der Heimat kommen.

Also, ein kleines Best of spannender Matches im Draw: Frauen, 1. Runde, Kulitschkowa - Wickmayer 3:6, 7:6 (6), 10:8. Oder: Junioren, 1. Runde, Opelka - De Minaur 4:6, 6:3, 13:11. Oder: Männer, Doppel, 3. Runde, Bopanna/Mergea - Kubot/Mirnyi 7:6 (4), 6:7 (5), 7:5 (5), 7:6 (8). Oder: Männer, 3. Runde, Cilic - Isner 7:6 (4), 6:7 (6), 6:4, 6:7 (4), 12:10. Die Partie war übrigens wegen Dunkelheit im 5. Satz beim Stand von 10:10 abgebrochen worden. Viele dachten (hofften/fürchteten), es könnte wieder so etwas werden wie 2012, als Isner den letzten Durchgang gegen Nicolas Mahut nach elf Stunden mit 70:68 gewann - doch diesmal dauerte die Fortsetzung dann doch nur zwei Spiele.

  • Aorangi Terrace

Dieser Ort auf der Anlage des All England Lawn Tennis and Croquet Club ist der vielleicht bekannteste Hügel, den es im Sport gibt. Obwohl es ja gar kein natürlicher Hügel ist. Als das zweitgrößte Stadion, der Court No. 1, Ende der Neunzigerjahre neu gebaut wurde, musste die Erde irgendwo hin. Das Gelände war flach, man türmte die Erde, der Hügel entstand. Und mit ihm ein kleiner Kult. Denn als ab 1996 der Engländer Tim Henman immer wieder verzweifelt versuchte, endlich mal Wimbledon zu gewinnen, saßen die Briten, die nicht auf den Centre Court kamen, auf dem Hügel hinter Court No. 1. Dort sahen sie seine Matches auf der großen Leinwand und fieberten mit. Da erhielt der Hügel den Namen Henman Hill.

Je nachdem, welcher Brite gerade spielt, kann er aber auch anders heißen, z.B. Murray Mound, Heather Hill, Robson Ridge, wie auch immer. Fest steht: Auch 2015 ist dieser Flecken ein Ort der Fröhlichkeit, es wird gepicknickt, entspannt, gezittert und gejubelt. Morgens schon besetzen die Menschen, die nur Ground Tickets haben, die Plätze auf dem Gras, eine riesige Freiluftarena der absoluten Heiterkeit entsteht jeden Tag. Das allererste große Happening, das auf diesem Hügel stattfand, war anlässlich der Fußball-EM 1996. Damals siegte Deutschland gegen England im Elfmeterschießen, Tausende sahen diesen Krimi in Wimbledon auf der Leinwand, hinter Court No.1. Aber darüber reden sie hier nicht mehr so gerne.

  • Jamie Murray

Jamie Murray ist es gewohnt, Fragen zu seinem berühmten Bruder Andy zu beantworten. Doch in Wimbledon ist endlich er einmal das Familienmitglied, das im Mittelpunkt steht. Während Andy Murray im Einzel im Halbfinale rausflog (gegen einen Roger Federer in unglaublicher Tagesform), betrat der 29-Jährige am Final-Samstag vor 15 000 Zuschauern den Centre Court: Mit seinem australischen Partner John Peers hatte er es bis ins Doppel-Endspiel geschafft. Immer wieder schrie jemand laut: "C'mon, Jamie!" Ob er es schade finde, dass er im Einzel nie den Durchbruch geschafft habe, wurde Jamie Murray in Wimbledon gefragt. "Einzel find ich langweilig", meinte er nur. "Deswegen schaue ich Andy auch fast nie zu." Diesmal war es sowieso sein Bruder, der am Finaltag den Fernseher anschalten musste.

  • Ballkinder
Nick Kyrgios lag ständig im Streit mit den Schiedsrichtern, mit dem restlichen Personal am Court kam er besser aus. (Foto: Adrian Dennis/AFP)

Es waren anstrengende Tage für die Ballkinder in Wimbledon. In der ersten Turnierwoche wurden bis zu 35,7 Grad gemessen - ein Junge in dunkelblauer Uniform kippte daraufhin um. Zudem triezen immer mehr Spieler die jugendlichen Assistenten auf dem Tennisplatz mit ihren Macken: Fast alle Profis fordern inzwischen bis zu fünf Bälle an, lassen diese kurz in der Hand rotieren und pfeffern drei davon achtlos weg. Das hält ganz schön auf Trab. Manchmal kommt es jedoch noch schlimmer: Als Novak Djokovic im Achtelfinale ein Aufschlagspiel verlor, ließ er seinen Frust an einem Ballkind aus: "Handtuch", brüllte er und fuchtelte mit den Armen. Das Mädchen brach in Tränen aus. Nicht die feine englische Art.

  • Sergej Stachowski

Sergej Stachowski ist ein Mann mit eigenen Meinungen, und so tat er diese auf der ukrainischen Seite xsport.ua kund. Es ging um Homosexualität im Tennis. "Auf der ATP-Tour haben wir eine normale Atmosphäre. Wenn da was wäre, würden wir sicherlich darüber Bescheid wissen. In den Top 100 gibt es keine Schwulen", sagte der Profi aus der Ukraine.

"Auf der WTA Tour ist fast jede zweite lesbisch. Könnt ihr das glauben? Die Hälfte!", das sagte er auch noch, und weil ihm noch etwas wichtig war, sagte er dies: "Ich werde meine Tochter sicherlich nicht auf die WTA Tour schicken." Daraufhin gab die Frauentour WTA eine Erklärung ab, in der es hieß: "Es ist traurig, dass es in diesen Tagen und in diesem Zeitalter Leute gibt, die voreingenommen sind und höhnisch über die sexuelle Orientierung von Frauen sprechen."

  • Nick Kyrgios

Auch Boris Becker ist ein Anhänger von Nick Kyrgios."Ich bin froh, dass wir so einen talentierten und frechen Charakterkopf haben", sagte der Charakterkopf aus Leimen. Der 19-jährige Australier war tatsächlich eine Show: Er heizte das Publikum bei Seitenwechseln an, ihn noch eifriger zu unterstützen. Er umarmte einmal einen Balljungen, als es für ihn nicht lief. Doch manchmal ging Kyrgios vielleicht doch einen Schritt zu weit.

Der Hitzkopf legte sich ständig mit den Schiedsrichtern an, stieß Flüche aus, die alles andere als jugendfrei waren und donnerte einmal den Schläger auf den Boden, so dass dieser ins Publikum sprang. Im Achtelfinale gegen Richard Gasquet war er so verärgert, dass er bei einem Aufschlagspiel des Franzosen einfach nicht returnierte. Er verlor den Satz, womöglich deswegen sogar das ganze Match. Mit seinem unberechenbaren Verhalten amüsiert Kyrgios zwar Becker und die Tennisszene, er schadet aber manchmal sich selbst.

  • Rafael Nadal

Wieder ist Rafael Nadal in Wimbledon viel zu früh gescheitert. Diesmal schied der ehemalige Weltranglistenerste in der zweiten Runde gegen Dustin Brown aus, einen deutschen Qualifikanten. Nadal betrat danach den Main Media Room, er schaute auf den Boden, die Schultern hingen herunter. Er wusste selbst nicht, wie es nun weiter gehen soll. "Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder mein altes Level erreiche", sagte er traurig. Er verlor eine Partie, immerhin aber nicht seinen Humor: Er werde London nun sofort verlassen, kündigte er an und bot den Reportern an: "Ab morgen ist mein Haus frei. Wenn es einer nutzen will, nur zu!"

  • Kohli

Kohli war der, der für eine bemerkenswerte Serie sorgte bzw. sie auslöste, also quasi. Er war ja der Letzte, der dem großen, unvergleichlichen Roger Federer ein Aufschlagspiel abnehmen konnte. Vor Wimbledon war das, beim Rasenturnier in Halle, das Federer gewann. Der Schweizer verlor ab jenem Break, das er gegen Kohli kassiert hatte bei seinem dann folgenden Drei-Satz-Sieg, kein einziges Service-Game mehr, bis er in Wimbledon im Viertelfinale auf den Franzosen Gilles Simon traf. Der nahm ihm einmal, nach 126 gewonnenen Aufschlagspielen, tatsächlich wieder, als erster nach Kohli, den Aufschlag ab. Es begann mit Kohli. Aber niemand dankte Kohli, der übrigens nicht verwandt oder verschwägert ist mit jenem Kohli, der in der königlichen Loge verweilte.

© SZ vom 12.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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