Garmisch-Sieger Thomas Diethart:Flachländer mit Fluggefühl

Lesezeit: 4 min

Der neue Überflieger aus Östereich: Der 21-jährige Thomas Diethart (Foto: REUTERS)

So einen Überflieger hätte Bundestrainer Werner Schuster auch gerne: Der 21-jährige Thomas Diethart gewinnt überraschend das Neujahrsspringen der Vierschanzentournee. Die deutschen Springer müssen dagegen die Scherben ihrer zerschlagenen Hoffnungen aufkehren.

Von Thomas Hahn, Garmisch-Partenkirchen

Severin Freund muss jetzt von einem Gefühl erzählen, das kaum ein Mensch nachvollziehen kann. Vom Skispringer-Gefühl, das ihn an guten Tagen wie ein geheimer Zauber tief ins Tal trägt, und das sich an anderen einfach nicht einstellen will. Er ist gerade im ersten Durchgang des Neujahrsskispringens von Garmisch-Partenkirchen ausgeschieden nach einem mauen Satz auf 130 Meter, der fünf Meter kürzer war als der seines japanischen Duell-Gegners Taku Takeuchi, und Freund weiß, woran es lag. Er hat es schon in den Probedurchgängen und in der Qualifikation gespürt, dass ihm auf der Olympiaschanze die innere Kraft für die ganz großen Weiten abhanden gekommen ist, die er zum Beispiel im Dezember in Lillehammer hatte, als er seinen fünften Weltcup-Sieg verzeichnete.

"Skispringen ist eine sehr schöne, aber auch sehr diffizile Sportart", sagt Freund, "es hängt an kleinen Gefühlssachen, dass man nicht mehr auf den Sprung zugreifen kann." Viel mehr kann er jetzt nicht sagen, Ausflüchte macht er keine. "Sehr, sehr schade", sagt Freund, der frühere Tournee-Mitfavorit, "ich habe wirklich gedacht, dass ich in einer besseren Form zur Tournee komme."

Vierschanzentournee
:Thomas Diethart gewinnt überraschend Neujahrsspringen

Ein unbekannter Österreicher mischt bei der Vierschanzentournee die Weltelite auf: Thomas Diethart holt sich den Sieg in Garmisch-Partenkirchen. Die deutschen Springer haben mit den Podestplätzen nichts zu tun. Andreas Wellinger und Richard Freitag schaffen es aber unter die besten Zehn.

So kann man sich täuschen. Freund und die anderen Deutschen können die 62. Vierschanzentournee im Grunde nur noch als etwas bessere Olympia-Vorbereitung verwenden nach ihrem Vortrag am Mittwoch. Nach vorne geht nichts mehr in der Gesamtwertung. Die anderen machen die Musik, mal wieder. Immerhin, auch der Kampf an der Spitze hat sich so entwickelt, wie es vor dem Start der Serie nicht zu erwarten war: Denn das hat doch vor wenigen Wochen kaum jemand für möglich gehalten, dass der gebürtige Flachländer Thomas Diethart, 21, aus Michelhausen bei Tulln, Niederösterreich, das Neujahrsspringen gewinnt. Und dabei einen solchen Vorsprung in der Gesamtwertung zwischen sich und den Rest legt, dass er vor den letzten Tournee-Etappen in Innsbruck und Bischofshofen plötzlich als Favorit auf den Gesamtsieg dasteht.

Dietharts Landsmann Thomas Morgenstern hielt Anschluss mit seinem zweiten Platz, ebenso der Schweizer Oberstdorf- Gewinner Simon Ammann als Drittplatzierter. Ansonsten ist keiner mehr in Reichweite, auch der hochgewettete Norweger Anders Bardal nicht, der diesmal 13. wurde. Diethart war so angetan wie einsilbig nach dem Triumph. "Es ist a Wahnsinn", sagte er, und es war ihm anzusehen, dass er selbst ziemlich ungläubig vor seinem raschen Aufstieg stand. "Sie führen", sagte der ZDF-Reporter. "Okay", sagte Diethart.

So ein Überfallkommando hätte der deutsche Bundestrainer Werner Schuster auch gerne. Hat er aber nicht. Schuster muss gerade die Scherben einer zerschlagenen Hoffnung aufkehren. Er selbst hatte die Stärke seiner Männer immer wieder hervorgehoben und Severin Freund zum Mitfavoriten erklärt. Warum auch nicht? Die Ergebnisse vor der Tournee waren ja meistens gut. Aber jeder Tag bei der Tournee hat bisher eine andere Ernüchterung gebracht. In der Mannschaft steckt gerade keine Konstanz.

Die Qualifikation zum Neujahrsspringen war für die Deutschen fast schon so etwas wie ein Offenbarungseid, weil sie sich zwar in rauen Mengen (mit zehn Mann) für den Wettkampf empfahlen, dabei aber einen geräumigen Abstand zur Elite ließen: Andreas Wank war noch der Beste als 19., Freund landete auf Rang 41, auch die A-Team-Kollegen Andreas Wellinger, Karl Geiger und Richard Freitag platzierten sich im letzten Fünftel der 50 Qualifizierten. "Kollektiv versagt", urteilte Schuster. Das war keine gute Vorlage, um tags drauf das unspektakuläre Auftaktergebnis von Oberstdorf zu kontern.

Es gab Lichtblicke am Neujahrstag, Schuster sah das Ergebnis sogar als Zeichen dafür, dass sein Team schwarze Tage wie den Silvester-Tag mit Fleiß und selbstkritischer Andacht verkraften kann. Michael Neumayer (19.) und Andreas Wank (15.) platzierten sich auf ihren Stammplätzen im Mittelfeld. Echte Stehaufqualitäten zeigten Andreas Wellinger und Richard Freitag: Wellinger wurde sehr guter Fünfter und sagte: "Ich habe mich heute viel besser konzentrieren können." Freitag belegte Platz neun und verdiente sich ein Sonderlob vom Bundestrainer: "Was er heute herausgezaubert hat, ist aller Ehren wert."

Bundestrainer Schuster kritisiert fehlende Hierarchie

Dafür stürzte Marinus Kraus im ersten Durchgang wie ein übersteuertes Propellerflugzeug vom Schanzentisch: raus in Runde eins gegen den Norweger Rune Velta, verwischt sein guter achter Platz vom Tournee-Auftakt. Wenig später erlebte Severin Freund sein kleines Waterloo, zur Pause war das deutsche Neujahrsaufgebot um die Hälfte dezimiert. Und wieder mal stand die Frage im Raum: Sind die jungen Deutschen überfordert, wenn die Macht des Großereignisses nach ihnen greift?

Severin Freund hat keine laienpsychologischen Erklärungen bemühen wollen nach seinem Aus. Er will nicht glauben, dass die Erwartungen von außen ihn gebeugt haben. "Ich bin einfach schlecht skigesprungen", sagte er. Aber was das Unterbewusstsein anrichtet, kann man ja selbst oft nicht einschätzen. Werner Schuster jedenfalls sagte: "Die Jungs wollen, aber jetzt wollen sie zu viel", und später fügte er hinzu: "Wir haben ein Problem: Wir haben keine tragende Hierarchie." Er wirkte trotzdem geduldig und gefasst. Um den Stress, einen potenziellen Tournee-Gesamtsieger zu betreuen, kommt er in diesem Jahr auf jeden Fall herum.

Diethart also ist der starke Mann des Augenblicks. Und so deutlich, wie er mit seinen Sprüngen auf 141 und 140,5 Meter der Konkurrenz enteilte, kann man sich fast nicht vorstellen, dass er gerade angreifbar ist. Diethart ist ein Absolvent des Skigymnasiums Stams, ein früherer Turner mit exzellentem Körpergefühl. Sein früherer Coach Alexander Stöckl, heute Norwegens Nationaltrainer, lobt ihn als "extrem sprungkräftig". Und Thomas Diethart hat einen großen Vorteil gegenüber anderen im Feld. Erwartungen gab es für ihn keine vor der Tournee. Er ist unbefangen und frei, und er sagt: "Ich hab' Spaß, an dem, was ich tu'." Er hat das richtige Gefühl für seine Sprünge, und damit geht alles leicht im geheimnisvollen Schanzensport.

© SZ vom 02.01.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: