Fußball-WM: Klischees:Rumpler und Schönspieler

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Deutschland hat kein Flair, England besiegt sich selbst und hochgelobte Afrikaner scheitern: Manche Länder sind fußballerisch mit Vorurteilen behaftet - viele werden bei dieser WM widerlegt.

Jürgen Schmieder

Die amerikanische Zeitschrift Esquire beschäftigt sich in ihrer Sommerausgabe ernsthaft mit der Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika - was ein wenig verwundert, weil amerikanische Zeitschriften nur dann über Fußball schreiben, wenn sie darüber lästern möchten. Rivalitäten werden aufgedröselt, die prägenden Akteure vorgestellt - und die wichtigsten Klischees über einzelne Länder genannt. Nach dem ersten WM-Spieltag lässt sich feststellen: Nicht jedes Vorurteil lässt sich bestätigen. Eine Analyse.

Einer der wenigen rustikalen Momente: Thomas Müller beim Grätschen. (Foto: AP)

Stereotyp Deutschland (laut Esquire): "Schonungslos effizient, lassen Flair vermissen. Gewinnen oft allein durch schiere Entschlossenheit."

Das 4:0 der deutschen Elf war eines der wenigen wirklich ansehnlichen Spiele bei der WM. Überhaupt sagte Bundestrainer Joachim Löw schon vor vier Jahren, dass die sogenannten deutschen Tugenden "rennen und kämpfen" mittlerweile jeder beherrsche. Ein Blick in die offizielle Statistik zeigt, dass sich unter den 50 laufstärksten Spielern des ersten Spieltags nur zwei deutsche Akteure (Schweinsteiger und Khedira) befinden.

Löw lässt seine junge Elf derzeit wahrlich attraktiven Fußball spielen, unter den zehn Spielern mit den meisten Pässen befinden sich vier deutsche Akteure (Lahm, Schweinsteiger, Mertesacker, Friedrich). Damit überrascht die deutsche Elf auch die internationale Presse. Die Times etwa schrieb: "Je mehr sich die Deutschen ändern, desto mehr bleibt gleich. Das Ergebnis war zwar vorhersehbar und irgendwie typisch, nicht aber die Art dieses herausragenden, flüssig erspielten Sieges. Ja, das waren die Deutschen - aber nicht wie wir sie kennen."

Tendenz derzeit: Klischee nicht bestätigt.

Sagen Sie jetzt nichts ... Diego Maradona
:"Das ist sie, die Hand Gottes"

Ist Diego Armando Maradona als Trainer der argentinischen Nationalelf tätig? Oder als Maskottchen? So genau weiß man das nicht, jedenfalls hatte er keine Muße für ein Interview ohne Worte. Aber es gibt ja genügend Fotografen.

Stereotyp England (laut Esquire): "Vielversprechend und talentiert, jedoch mit dem Hang zu Stoik und Fatalismus. Das geht so weit, dass sie sich meist selbst besiegen."

Gut gespielt, aber aufgrund eines Torwartfehlers nur 1:1: die englische Nationalelf um Steven Gerrard. (Foto: getty)

Beim ersten Spiel gegen die USA zeigte die britische Elf eine über weite Strecken ansehnliche Leistung. Wayne Rooney, Frank Lampard und Steven Gerrard ließen erkennen, warum sie zu den besten Spielern der Welt gehören. Doch am Ende hieß es 1:1 gegen eher harmlose Armerikaner - weil Torhüter Robert Green einen Kullerball ins Tor ließ.

Ein britischer Journalist schrieb: "Das ist das erste Leck seit Wochen, über das sich die Amerikaner nicht ärgern." Und die Sun forderte: "Können wir dieses Turnier bitte noch einmal starten, Herr Blatter? Zuerst Englands trostloses Unvermögen, gegen die USA zu gewinnen - und dann muss man dem alten Rivalen auch noch dabei zusehen, wie er unsere Kumpels aus Australien auseinandernimmt." Ein weiteres Klischee über die englische Nationalelf darf allerdings erst in der Ausschlussrunde bemüht werden - bei den Gruppenspielen gibt es noch kein Elfmeterschießen.

Tendenz derzeit: Klischee bestätigt.

Stereotyp Brasilien (laut Esquire): "Spielen wunderschön mit Stil, Rhythmus und glanzvoller Technik. Die Besten - und die am besten Anzusehenden."

Wahrscheinlich wissen die Redakteure von Esquire nicht, dass der Nationaltrainer der Brasilianer Carlos Dunga heißt, auf dessen Wunschliste Rhythmus, glanzvolle Technik und Ansehnlichkeit weit hinter den Begriffen Disziplin, Ordnung und Ergebnis auftauchen. Dunga wird sich mehr über den knappen Erfolg im Auftaktspiel gegen Nordkorea gefreut als über die wenigen fußballerischen Leckerbissen geärgert haben. Er wird trotz heftiger Proteste der brasilianischen Journalisten auch weiterhin geheime Trainingseinheiten abhalten und der Regel des Otto Rehhagel folgen: "Ich werde nicht für schöne Spiele bezahlt, sondern für Siege."

Es bleibt jedoch festzuhalten, dass es nun wahrlich nicht einfach war, gegen die disziplinierten Nordkoreaner spielerische Glanzpunkte zu setzen. Immerhin: Der Schuss von Maicon zum 1:0 war schön anzusehen und zeugte von glanzvoller Technik - und beim 2:0 waren deutlich Stil und Rhythmus zu erkennen.

Tendenz derzeit: Klischee nicht bestätigt.

Stereotyp Frankreich (aus Esquire): "Flatterhaft. Manchmal sind sie die Besten der Welt, manchmal sind sie kaum vorhanden."

Beim ersten Spiel gegen Uruguay waren von den Franzosen tatsächlich kaum ansehnliche Angriffe zu sehen. Erst in Überzahl drückte die Elf von Raymond Domenech auf den Führungstreffer, der jedoch nicht fallen wollte. Es scheint derzeit gerade im Mittelfeld ein Spieler zu fehlen, der die Organisation der durchaus talentierten Kollegen übernimmt. Künstler Franck Ribéry wurde, wie andere potentiell prägende Spieler wie etwa Rooney, Sneijder und Ronaldo auch, noch nicht besonders auffällig, er gehörte eher in die Kategorie "kaum vorhanden".

Wie flatterhaft die Mannschaft wirklich ist, werden erst die beiden Spiele gegen Mexiko und Südafrika zeigen. Es könnte sein, dass Frankreich nach den Spielen gegen Mexiko und Südafrika nach Hause fahren muss - oder plötzlich als Favorit auf den Titel gilt.

Tendenz derzeit: unentschieden.

Stereotyp Italien (laut Esquire): "Opernhaft, mit dem Hang zum Tarnen und Täuschen."

Daniele De Rossi verhindert einen Fehlstart der Italiener. (Foto: ap)

Sollten die Redakteure von Esquire mit dem ersten Klischee die Oper Das Beben gemeint haben, dann trifft es durchaus zu, denn dieses Stück ist laut Ankündigung eine "Zelebrierung der Langsamkeit". Auch das Vorurteil vom Tarnen und Täuschen könnte zutreffen, glaubt man den Aussagen der italienischen Protagonisten nach dem ersten Spiel. Während die meisten neutralen Zuschauer die Partie gegen Paraguay eher als magere Fußballkost wahrnahmen, urteilte etwa Trainer Marcello Lippi: "Italien ist da: mental, physisch, taktisch und mit dem Herzen." So gesehen war das 1:1 reine Tarnung, die Italiener werden noch groß aufspielen.

Tendenz derzeit: unentschieden.

Stereotyp Spanien (aus Esquire): "Immer großartig, doch den großen Titel gewinnen sie nie."

Das erste Spiel gegen die Schweiz dominierten die Spanier zwar, doch von einer großartigen Leistung wollte kaum jemand sprechen - vor allem, weil die Spanier auch noch mit 0:1 unterlagen. "Wir waren zu ungenau und unkonzentriert vor dem gegnerischen Tor", sagte Trainer Vicente del Bosque. "Nun müssen wir eben die anderen beiden Spiele gewinnen." Ob es nach der EM 2008 zum wirklich großen Titel, dem des Weltmeisters, reicht, ist nach der Partie gegen die Eidgenossen noch nicht abzusehen - großartig war die Leistung der Spanier jedoch keinesfalls.

Tendenz derzeit: Klischee nicht bestätigt.

Stereotyp Uruguay (laut Esquire): "Die Mannschaft spielt unattraktiv und überhart"

Beim ersten Spiel gegen Frankreich agierten Diego Forlan und seine Kollegen durchaus gefällig und hatten einige Gelegenheiten, die Partie zu gewinnen. Erst als die Mannschaft aufgrund eines Platzverweises mit einem Mann weniger auskommen musste, wurde das Spiel unansehnlich, weil Uruguay nur noch darauf bedacht war, das 0:0 über die Zeit zu bringen. Überhart war die Spielweise der Südamerikaner nicht, auch wenn die Hinausstellung durchaus gerechtfertigt war. Das zeigt ein Blick in die Statistik nach dem ersten Spieltag: Kein Spieler aus Uruguay beging mehr als drei Fouls, insgesamt foulten die Franzosen (20) öfter als Uruguay (13).

Tendenz derzeit: Klischee nicht bestätigt.

Erstaunlich effektiv: Hollands Nationalelf beim ersten Spiel gegen Dänemark. (Foto: dpa)

Stereotyp Holland (fast alle deutschen Fernsehexperten): "Die Mannschaft ist talentiert und zeigt hervorragenden Fußball - scheidet dann jedoch aus, weil das Team eine Anti-Turniermannschaft ist."

Beim ersten Spiel gegen Dänemark präsentierte sich die holländische Elf solide und effizient - nicht aber begeisternd. Doch genau darauf waren die Spieler nach der Partie stolz. "Wir haben den Gegner beherrscht, wir haben gewonnen. Das ist der richtige Start in das Turnier", sagte Rafael van der Vaart. Trainer Bert van Marwijk beging gar eine Blashpemie, indem er aus Effizienzgründen auf das in Holland heilige 4-3-3-System verzichtete. Wie es um das Steigerungspotential bestellt ist und wie sich die Mannschaft in der Ausscheidungsrunde präsentiert, das ist allerdings noch nicht abzusehen.

Tendenz derzeit: Klischee nicht bestätigt.

Vor dem Turnier Lob, beim ersten Spiel eine Niederlage: Nigerias Nationalelf unterlag Argentinien. (Foto: getty)

Stereotyp afrikanische Teams (laut Fifa-Chef Sepp Blatter): Blatter ruft vor jedem Turnier eine afrikanische Mannschaft zum Favoriten aus - es heißt immer, die Afrikaner könnten für eine Überraschung sorgen und sich als Kontinent der Zukunft präsentieren. Doch mehr als das Viertelfinale sprang bisher nicht heraus.

Dieses Klischee scheint sich zumindest nach dem ersten Spieltag zu bestätigen: Die hochgelobten Nigerianer bekamen von Argentinien die Grenzen aufgezeigt, für Gastgeber Südafrika reichte es am Ende nur zu einem 1:1 im Eröffnungsspiel und ist die WM nach dem 0:3 gegen Uruguay schon so gut wie vorbei. Die Elfenbeinküste schaffte ein 0:0 gegen Portugal - und Kamerun unterlag gar mit 0:1 gegen Japan. Nur Ghana gewann mit 1:0 gegen Serbien. Ob eine afrikanische Mannschaft ins Halbfinale vordringen kann, ist derzeit nicht abzusehen - die ersten Ergebnisse deuten jedoch eher nicht darauf hin. Immerhin stellt der Kontinent laut offizieller Fifa-Statistik derzeit den schnellsten Spieler des Turniers: der Nigerianer Victor Obinna.

Tendenz derzeit: unentschieden.

Starkes erstes Spiel: Südkorea gewann gegen Griechenland. (Foto: ap)

Stereotyp Südkorea (laut mehrerer Sportzeitungen): Seit Guus Hiddink Nationaltrainer war, laufen die südkoreanischen Spieler mehr als alle anderen.

Warum die Südkoreaner bei der Weltmeisterschaft 2002 derart topfit wirkten, darüber streiten sich die Experten: knallhartes Fitnesstraining, genetische Veranlagung - oder doch ein Zaubertrank vor den Spielen. Auch bei dieser WM präsentieren sich die südkoreanischen Spieler auffallend laufstark - allerdings nur 70 Minuten lang, dann war den Akteuren anzumerken, wie sie physisch abbauten. Auch in der offiziellen Statistik der Fifa wird bei den laufstärksten Spielern der erste Südkoreaner erst auf Platz 15 geführt. Es ist Yeon Kim Hun mit 11,4 Kilometern. Führend ist derzeit Carl Valerie aus Neuseeland mit 13 Kilometern.

Tendenz derzeit: Klischee nicht bestätigt.

Gastgeber Südafrika möchte das Achtelfinale erreichen - wie alle Heimteams zuvor. (Foto: dpa)

Stereotyp Heimteam (laut Statistik): Der Gastgeber erreicht immer die zweite Runde.

Jeder Gastgeber einer WM überstand bisher die erste Runde - und war meist auch im weiteren Verlauf überraschend erfolgreich: Chile etwa schaffte 1962 den dritten Platz, Mexiko erreichte 1986 das Viertelfinale und scheiterte erst im Elfmeterschießen - und gehässige Menschen behaupten, dass selbst der dritte Platz der deutschen Elf vor vier Jahren auf den Heimvorteil zurückzuführen wäre. Dazu gab es bereits sechs Heim-WM-Titel, nur die USA scheiterten 1994 bereits im Achtelfinale und Spanien schied 1982 in der zweiten Finalrunde aus. Gute Vorzeichen eigentlich für Gastgeber Südafrika, doch nach dem 1:1 gegen Mexiko und der Niederlage gegen Uruguay sieht es wahrlich nicht gut aus - zumal beim letzten Gruppenspiel Frankreich wartet.

Tendenz derzeit: Klischee nicht bestätigt.

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