Fußball-EM:Abhängig vom Stilmittel des kleinen Mannes

Lesezeit: 3 min

"Behandeln Standardsituationen heute etwas anders als früher": Joachim Löw mit seinem Co-Trainer Thomas Schneider (Foto: Getty Images)
  • Bei der WM 2014 war Joachim Löws Auswahl mit etwas erfolgreich, worauf der Bundestrainer früher wenig Wert legte: Eckbälle und Freistöße.
  • Bei der EM soll erneut der ruhende Ball die Gegner überlisten.
  • Zum Spielplan der EM geht's hier.

Von Christof Kneer, Évians-les-Bains

Thomas Schneider war ein ausgezeichneter Verteidiger, viele sagen bis heute, er sei seiner Zeit voraus gewesen. Er war schon modern, als die Moderne noch gar nicht wusste, dass sie bald beginnen würde. Von Marcus Sorg hat man noch nicht gehört, dass er das Sturmspiel neu erfunden hätte, aber dafür muss er sich nicht schämen.

Sein aktueller Chef, Joachim Löw, hat das ja auch nicht. Löw war ein ehrenwerter Zweitliga-Torjäger in Freiburg, ähnlich wie Sorg, der für Ulm stürmte. Marcus Sorg ist der Mann, der in Évian manchmal irgendwo durchs Bild huscht, er ist der Neue, den die meisten Zuschauer beim Eröffnungstraining gar nicht richtig zuordnen konnten. Wer dieser freundliche Mann im DFB-Trikot sei, haben ein paar gefragt, und wo denn eigentlich dieser andere freundliche Mann sei, dieser Hansi Flick?

Termine der Fußball-EM in Frankreich
:EM 2016 Spielplan

Vom Eröffnungsspiel am 10. Juni bis zum Finale am 10. Juli 2016: Der Spielplan mit allen Begegnungen, Spielorten und Anstoßzeiten der Europameisterschaft in Frankreich.

Joachim Löw ist so prominent inzwischen, dass er sehr selbstverständlich die Nachfolge von Joachim Gauck antreten könnte, und obwohl er trotz regelmäßiger Besuche von hoteleigenen Fitnessanlagen kein sehr breiter Mensch ist, kann man hinter ihm leicht übersehen werden. So ist zuletzt auch ein wenig untergegangen, dass sein Trainerstab pünktlich zur EM eine Art Upgrade erfahren hat; zusätzlich zum Flick-Nachfolger Thomas Schneider hat Löw für die Dauer des Turniers einen weiteren Assistenten engagiert, eben jenen Sorg, einen ehemaligen DFB-Juniorentrainer, der nach den Olympischen Spielen von Horst Hrubesch die deutsche U21-Auswahl übernehmen wird.

Man könne jetzt "gruppentaktisch noch detaillierter arbeiten", sagt Thomas Schneider, international sei es "inzwischen ja Standard, dass mehrere Assistenten den Cheftrainer bei der Arbeit auf dem Platz unterstützen". Dem "Trend zu weiteren Spezialtrainern", den Schneider benennt, ist nun auch Jogi Löw gefolgt, gerne, wie man wohl behaupten darf, weil er die niederen Dienste jetzt noch erhabener an sein Volk delegieren kann.

Standards gehörten eher zu niederen Diensten

Zu den niedersten Diensten gehörte es für Löw lange, seinen Spielern zu erklären, wie man so plump gegen einen Ball tritt, dass er hoch und weit fliegt. Die sogenannte Standardsituation hat diesen ästhetischen Trainer jahrelang nur sehr mäßig erregt, sie kam in der Niedere-Dienste-Rangliste irgendwo zwischen Kartoffel schälen und Badfliesen schrubben. Tore nach Ecken und Freistößen waren vielleicht was für Schotten oder Nordiren, aber doch nichts für Löws Künstlerkolonie.

Es ist ein wesentliches Merkmal von Löws Reifung, dass er inzwischen auch das Stilmittel des kleinen Mannes gelten lässt; der Weltmeistertrainer akzeptiert, dass er ohne die Standardsituation heute gar kein Weltmeistertrainer wäre. Sein Team hat sich in Brasilien von fünf Standardtoren durchs Turnier tragen lassen, viermal traf es nach einem Eckball, einmal nach einem seitlichen Freistoß - und so hat Löw in dieser Woche in Évian lässig sagen können, "dass wir die Standardsituation heute etwas anders behandeln als früher".

Wer Weltmeister ist, darf vermutlich auch das: Er hat das Recht, ein ehemaliges Versäumnis nicht als Versäumnis darzustellen, sondern als bewussten Verzicht. "Wir haben uns in den ersten Jahren mehr mit technisch-taktischen Dingen beschäftigen müssen", sagt Löw, "heute sind wir in dieser Hinsicht viel weiter und haben mehr Zeit fürs Standardtraining."

In zwei Tagen beginnt das Turnier für die DFB-Elf, und wie weit sie kommt, könnte auch davon abhängen, wie sie mit dem Erbe von Hansi Flick umgeht. Flick, inzwischen Sportdirektor im Verband, hat der Nationalmannschaft die Standardsituationen hinterlassen.

Start der Europameisterschaft
:Frankreich vor der EM - zwischen Vorfreude und Vorsicht

Die Polizei probt den Ernstfall, die Sorge um die Sicherheit belastet den Start der Fußball-Europameisterschaft. Was hilft da? Der Glaube an die Behörden. Und Mathematik.

Von Thomas Hummel

Flick hat vor Brasilien ein verschärftes Spezialtraining durchgesetzt, viele kennen noch die Bilder von Nationalspielern, die mit Block und Stift in der Hand lustige Varianten aushecken, und jeder kennt das Bild von Thomas Müller, der zum Freistoß anläuft, am Ball vorbeiläuft, weiterläuft, sich auf den Boden schmeißt, sich wieder aufrappelt, weiterläuft - und leider vergeblich wartet, dass die Vorlage von Toni Kroos ihn erreicht. Das konzentrierte, disziplinierte, fokussierte Deutschland sah plötzlich aus wie eine Horde Schulbuben, die beim Pausenkick mit der Cola-Dose rumalbern.

Der Trainerstab wurde extra erweitert

Thomas Schneider sagt, natürlich werde diese Tradition auch vor dem aktuellen Turnier fortgesetzt. Im Trainingslager in Ascona haben sie wieder jene wettbewerbsnahe Übungsform eingesetzt, die den Spielern mehr Spaß bereitet als jenes Achtziger-Jahre-Eckentraining, bei dem einer draußen hundert Dinger reinhaut und die anderen drinnen hundert Dinger rein- oder wegköpfen. Bei der aktuellen Übungsform sind Konter und Gegenkonter ausdrücklich erlaubt; wenn die Abwehrspieler die Ecke klären, dürfen sie gleich zum Gegenangriff übergehen, und wenn dann die Stürmer wieder den Ball erobern, dürfen sie wieder auf die Abwehr zurennen.

"Maximal 30 Sekunden, eher weniger" solle jede Aktion dauern, sagt Hansi Flick, der diese Mischung aus Standard- und Umschaltspiel-Training in Brasilien coachte. In Évian kann Löw die Übung dank des erweiterten Trainerstabes noch professioneller ausführen lassen. "Wir können uns jetzt auch beim Standardtraining aufteilen", sagt Thomas Schneider, "bei Ecken zum Beispiel coacht Marcus die offensive Mannschaft, ich die defensive."

Die Stürmer hören auf das Kommando des ehemaligen Stürmers, die Verteidiger auf das Kommando des ehemaligen Verteidigers. Beim DFB wissen sie ja sehr genau, dass ihnen die hübschen Offensivvarianten nicht zum Titel reichen werden, wenn die Spieler dafür hinten in den Sekundenschlaf verfallen. "Vor allem an defensiven Standards müssen wir noch arbeiten", sagt Löw.

Als nun Antonio Rüdiger ausfiel, hat der Bundestrainer natürlich auch überlegt, ob er Sebastian Rudy nachnominieren soll, aber Rudy, 1,79 Meter groß, ist bei defensiven Standards keine besondere Hilfe. Löw hat sich also für Jonathan Tah entschieden. Der misst 1,92 Meter.

© SZ vom 10.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

DFB-Team vor der Fußball-EM
:Joachim Löw ist zum Realo mutiert

Kein Rüdiger, kein Gündogan, kein Reus: Der Bundestrainer muss vor Beginn der EM den Krisenmanager geben. Zum Glück ist Löw mittlerweile ein Meister der Pragmatik.

Von Christof Kneer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: