Fußball:Die Fußball-Nation Brasilien diskutiert ihre Zukunft

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Teresópolis (dpa) - Kann Luiz Felipe Scolari die Seleção für sein wohl letztes Spiel wiederbeleben? "Niemand ist deshalb gestorben", behauptet Brasiliens Nationaltrainer nach dem 1:7-Debakel gegen Deutschland und vor der Partie um den WM-Trostpreis gegen die Niederlande in Brasília.

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Teresópolis (dpa) - Kann Luiz Felipe Scolari die Seleção für sein wohl letztes Spiel wiederbeleben? „Niemand ist deshalb gestorben“, behauptet Brasiliens Nationaltrainer nach dem 1:7-Debakel gegen Deutschland und vor der Partie um den WM-Trostpreis gegen die Niederlande in Brasília.

Beim Weltmeisterschafts-Gastgeber werden bereits grundsätzliche Diskussionen über Zustand und Zukunft des Fußballs geführt. Noch darf Scolari mitreden. „Wer weiß, vielleicht wird das jetzt für wirkliche Veränderungen genutzt, auf und außerhalb des Platzes. Wichtig ist, dass man die Konzepte ändert“, forderte Tostão, der Weltmeister von 1970 und Kolumnist der Zeitung „O Tempo“.

Sportminister Aldo Rebelo sieht jedoch keinen Anlass für einen grundsätzlichen Kurswechsel. Das 1:7 bezeichnete er als „Unfall“, an der historischen Vormachtstellung des brasilianischen Fußballs habe das Ergebnis vom Dienstagabend in Belo Horizonte nichts geändert. Beleg dafür sei die Bilanz von 12:5 Siegen für die Seleçao gegen die DFB-Auswahl. „Das Ergebnis hat seine Gründe. Es wird eine tiefe Narbe hinterlassen. Wir müssen unsere Lektion lernen und versuchen, die Fehler zu korrigieren“, sagte Rebelo am Donnerstag in Rio de Janeiro.

Mit rabenschwarzem Humor hatte die brasilianische Medienwelt auf die Halbfinal-Lehrstunde reagiert. Nicht nur der Traum vom Titel wurde begraben - auf so manchen Zeitungsseiten gleich der gesamte brasilianische Fußball. Paulo Perdigão beschrieb einst in seinem Buch „Anatomie einer Niederlage“ das traumatische „Maracanaço“ von 1950, als Brasilien mit dem 1:2 gegen Uruguay den Titel verlor. Dieses Mal, meinte Paulo Vinícius Coelho, Experte des TV-Senders ESPN Brasil, müsse wohl „eine Autopsie“ her.

Mit der Aufarbeitung der höchsten Länderspiel-Niederlage Brasiliens haben Scolari und sein Mitstreiter Carlos Alberto Parreira am Tag danach begonnen. Demonstrativ saßen der Chefcoach sowie der Technische Direktor und Trainer der Weltmeistermannschaft von 1994 im Trainingscamp in Teresópolis bei einer Pressekonferenz auf dem Podium, um sie herum der Rest des Betreuerstabs. Wortreich verteidigten sie ihre Arbeit. „Wir hatten sechs Minuten einen totalen Kurzschluss. Aber vergesst nicht, dass Brasilien erstmals seit 2002 wieder in einem Halbfinale stand“, sagte „Felipão“. Von Fehlern wollte keiner der beiden was wissen.

Doch in Zukunft wird das Senioren-Duo Scolari (65) und Parreira (71) beim brasilianischen Fußball-Verband keine Rolle mehr spielen. Scolari, forderte schon der künftige CBF-Vizepräsident Delfim Peixoto (Nie wieder Scolari), solle in Rente gehen. Dessen Vertrag läuft ohnehin nach der WM aus. Adenor Bacci, zuletzt bei den Corinthians São Paulo, und Alexandre Gallo, Brasiliens U17- und U20-Coach, gelten als Nachfolgekandidaten.

Ein Umdenken im Land des Rekord-Weltmeisters, da sind sich alle einig, ist spätestens jetzt erforderlich. Zu sehr leidet die Nachwuchsarbeit darunter, dass die unzähligen Spielerberater die Talente möglichst gewinnbringend nach Europa verscherbeln, dass Verbandsstrukturen vor allem im Nachwuchsbereich fehlen.

„Die Arbeit in den Jugendkategorien ist sehr gut, sie wird sich in zwei, drei, vier Jahren auszahlen“, ist sich Scolari sicher. Parreira hingegen blickt etwas neidisch ausgerechnet Richtung Deutscher Fußball-Bund (DFB): „Die Deutschen haben mehr als 20 Regionalverbände. Sie haben 25 Stützpunkte, wo Spieler und Trainer geformt werden.“ Sowohl Scolari als auch Parreira wiesen darauf hin, dass sie erst seit eineinhalb Jahren mit der Seleção arbeiten konnten, und dass das Team von Joachim Löw seit der Heim-WM 2006 gewachsen ist. „Deshalb ist ihr Fußball perfekt, und das Resultat ist hier zu sehen“, meinte Parreira.

Brasilien hingegen muss - mit welchem Trainer auch immer - eine neue Mannschaft um Stürmerstar Neymar aufbauen. Scolari ist davon überzeugt, dass 70 Prozent der jetzigen Mannschaft das Team der Zukunft bilden werden. „Die, die weitermachen, werden sich entwickeln, und Brasilien wird wieder eine der stärksten Mannschaften der Welt sein“, prophezeite er. Einigen Spielern aber wie den Routiniers Júlio Cesar und Fred wird das „Mineiraçã“ von Belo Horizonte wohl ewig in den Schuhen hängen, weil sie praktisch keine Möglichkeit mehr haben, 2018 in Russland dabei zu sein.

„Wir werden den Hexa (6. WM-Titel) in Russland holen“, hatte Idol Pelé nach dem 1:7 etwas unreflektiert getwittert. Dort hat Brasilien wenigstens nicht den Druck der Heimmannschaft.

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