Radsport:Mit Tempo 55 in die Mauer

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Radprofi Christopher Froome, hier bei der zweiten Etappe der Dauphiné. (Foto: AFP)
  • Einen Tag nach dem schweren Unfall von Chris Froome wird klar, dass der Radprofi trotz diverser erlittener Verletzungen wohl noch Glück hatte.
  • Froome wird vermutlich sechs Monate ausfallen, wie das zuständige Krankenhaus in Saint-Étienne am Donnerstag mitteilte.
  • Die Tour de France hat damit vor dem Start in diesem Jahr ihre prägendste Figur verloren. Froome vereinte beides auf sich: große Triumphe und ebenso große Zweifel daran.

Von Johannes Knuth, München

Eine triefende Nase. Dieses kleine, alltägliche Ärgernis hat offenbar Christopher Froomes gewaltige Ambitionen zertrümmert, für die hohe Zeit des Radsports in diesem Sommer zumindest. Der britische Profi war am Mittwoch eine tückische Abfahrt im Département Loire hinuntergerauscht, beim Anschwitzen für das Einzelzeitfahren der Dauphiné - jene achttägige Rundfahrt, bei der das Peloton sich gerade einer letzten Belastungsprobe vor der Tour de France unterzieht. Froome gab seinem Teamkollegen Wout Poels jedenfalls zu verstehen, dass er sich die Nase putzen wolle. Dann löste er eine Hand von seinem Lenker. "In dem Moment hat eine Windböe sein Vorderrad erfasst, er hat die Kontrolle verloren und ist direkt in eine Hauswand gefahren", sagte David Brailsford, der Teamchef von Froomes Ineos-Team. Der Schock steckte ihm sicht- und hörbar in den Gliedern. Froome sei mit Tempo 55 in die Wand gekracht, ergänzte Brailsford, man habe das aus den Daten aus der Rennmaschine lesen können.

Es waren gruselige Details, die bis zum Donnerstag an die Öffentlichkeit sickerten. Froome hatte einen offenen Bruch des rechten Oberschenkels erlitten, dazu, "kleinere innere Verletzungen", wie sein Team mitteilte, auch der rechte Ellenbogen und mehrere Rippen kamen zu Bruch. Froome war unmittelbar nach dem Crash in einem Krankenwagen versorgt worden, der zufällig in der Nähe geparkt hatte. Genesungswünsche aus allen Ecken trudelten ein, viele waren von einer sorgenvollen Tonart unterlegt, die man selbst in dieser hart gesottenen Branche selten vernimmt.

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"Bitte haltet ihn in euren Gedanken", richtete Ehefrau Michelle am Mittwoch aus, da lag Froome noch im OP-Saal, die Eingriffe dauerten sechs Stunden. Am Donnerstag wurde er auf die Intensivstation verlegt, dort werde man ihn fürs Erste beobachten, hieß es. Wenn man aus all dem etwas herauslesen konnte, dann wohl die Erkenntnis, dass der 34-Jährige noch Glück gehabt hatte. Und dass das Risiko im Radsport immer auch ein tödliches ist, daran war die Szene zuletzt immer wieder erinnert worden.

Nun wird Geraint Thomas wohl die Kapitänsrolle schultern

Froome wird auf jeden Fall die diesjährige Frankreich-Rundfahrt verpassen, die am 6. Juli in Brüssel beginnt; er hätte dort mit seinem fünften Gesamtsieg zu den Größten im Tour-Ruhmeshalle aufschließen wollen: Anquetil, Merckx, Hinault, Indurain. Nun wird Froome vermutlich sechs Monate ausfallen, wie das zuständige Krankenhaus in Saint-Étienne am Donnerstag mitteilte. Und selbst wenn er erst 2020 zurückkehrt - er wäre dann 35, ein ambitioniertes Alter für einen Tour-Erfolg.

Wobei manch Sachverständiger prompt Widerspruch einlegte: "Er ist einer der härtesten Fahrer da draußen", sagte Richie Porte, einer von Froomes härtesten Mitbewerbern, dem Portal Cyclingnews. "So stark wie er ist, mental und physisch, darfst du ihn nie abschreiben." Ansonsten sei der Unfall natürlich furchtbar, befand der Australier, "egal, was die Menschen von ihm halten".

Damit dürfte Porte auf die Art angespielt haben, mit der Froome in den vergangenen Jahren vor allem die Tour prägte. Der Brite hat die prestigeträchtige Schleife bislang vier Mal gewonnen (2013, 2015, 2016, 2017), und er vereinte dabei wie viele seiner Vorgänger stets beides: große Triumphe und ebenso große Zweifel daran. Da war Froomes Biografie, die von der plötzlichen Verwandlung eines hoffnungslos unterlegenen Grünlings in einen Stammgast auf den größten Podien des Sports erzählte (was Froome mit einer überstandenen Wurmkrankheit begründete), da waren die Bilder von der Tour 2016, als Froome am Fuß des Ventoux einen Defekt erlitt und den Berg einfach hinauf joggte, bis der Materialwagen zu ihm vorstieß.

Und da war der Positivtest auf Salbutamol, den der Asthmatiker Froome im Herbst 2017 bei der Vuelta verursacht hatte. Sein Team, das zuvor schon wegen umstrittener Praktiken ins Zwielicht gerückt war, beteuerte, dass Froome zu dem Zeitpunkt ein wenig krank gewesen sei, der Test sei außerdem fehleranfällig. Die Welt-Anti-Doping-Agentur ließ Froome ohne Sanktion davonkommen. Zurück blieb der schale Eindruck, dass der Brite sich vor allem dank seiner starken Rechtsvertretung freigepaukt hatte. Als Froomes Equipe, die damals noch Sky hieß, kurz nach dem Verdikt bei der Tour-Präsentation in der Vendée auf die Bühne rollte, wurden sie von einer Welle an Pfiffen und Buhrufen erdrückt.

Die diesjährige Tour hat nun jedenfalls ihre prägendste Figur verloren, bevor sie begonnen hat. Froome sei in fantastischer Form gewesen, sagte sein Teamchef, er hatte den Giro diesmal ausgelassen, den er vor der letztjährigen Tour gewonnen hatte. Nun wird Geraint Thomas wohl die Kapitänsrolle schultern, der Vorjahressieger, der den schwächelnden Froome während der letztjährigen Tour aus der Rolle des Leaders gedrängt hatte.

Thomas hatte sich zuletzt allerdings eher mäßig präsentiert, seine Generalprobe steigt ab diesem Samstag bei der Tour de Suisse. Und Egan Bernal, 22, einer der wichtigsten Helfer des Teams in den Bergen, brach sich Anfang Mai das Schlüsselbein. "Einer unserer großen Stärken war immer, dass wir in harten Momenten zusammenrücken", sagte Brailsford.

Froome könnte sich unterdessen immerhin vom Krankenbett aus einen Erfolg sichern: Juan Jose Cobo, Sieger der Spanien-Rundfahrt 2011, soll diesen Titel verlieren, wegen Auffälligkeiten im Blutprofil, wie der Rad-Weltverband am Donnerstag mitteilte. Der Zweitplatzierte damals: Christopher Froome.

© SZ vom 14.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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