Südkorea bei der Fußball-WM:Ein Wunder? Selbst der Prediger zweifelt

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Eine Minichance ist auch eine Chance: Südkoreas Nationaltrainer Colin Bell. (Foto: Dan Peled/Reuters)

Colin Bell hat Frankfurt einst zum Champions-League-Triumph gecoacht, nun will er mit Südkorea die Minichance gegen Deutschland nutzen. Doch er ist mit sehr grundsätzlichen Problemen konfrontiert.

Von Frank Hellmann, Sydney

Die Fönfrisur saß bei Colin Bell mindestens so akkurat wie die dunkle Brille, dazu hatte der Nationaltrainer Südkoreas den Reißverschluss seines Trainingsanzugs ein Stück weit geöffnet. Mit freundlichem Lächeln begrüßte der 61-Jährige in Brisbane vor dem letzten WM-Gruppenspiel gegen die deutschen Fußballerinnen (Donnerstag, 12 Uhr/ZDF) bekannte Gesichter; die meiste Zeit hat er nun einmal als Profi und Trainer in Deutschland gelebt. Sein Haus im Westerwald besitzt er bis heute.

Viele hatten vor der WM-Auslosung gedacht, die zweitbeste Auswahl Asiens mit dem Taktikfuchs Bell könne für die DFB-Frauen der härteste Gegner werden, doch nach Niederlagen gegen Kolumbien (0:2) und Marokko (0:1) ist Ernüchterung eingekehrt. Bell erreichte am Mittwoch die Frage, ob sich ein "Wunder von Kasan" wiederholen müsse, um doch weiterzukommen.

Südkorea erinnert sich gern daran, wie die Nationalmannschaft der Männer in einer ähnlichen Konstellation bei der WM 2018 in Russland den Weltmeister Deutschland in der Tatarenstadt aus dem Turnier warf. Doch Bell wollte darin keine Parallelen erkennen. Klar, der Fußball sei unberechenbar, "deshalb lieben wir ihn so sehr", doch mit Wundern tue er sich schwer. Irgendwann formte er mit Daumen und Zeigefinger einen kleinen Spalt, um zu veranschaulichen, wie winzig die Hoffnung auf den Achtelfinaleinzug noch sei: "Wir haben diese Minichance." Aber auch eine Minichance sei eine Chance. Was sollte er anderes sagen.

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Seit Tagen beschäftigt den charismatischen Fußballlehrer die Frage, warum seine Spielerinnen "nicht so performt haben wie in den vergangenen vier Jahren", nachdem er das Amt als erster Ausländer angetreten hatte. Im Finale um den Asien-Cup Anfang 2022 hatten die Taeguk Ladies China am Rande einer Niederlage, und Bell glaubt immer noch, dass sein Team "an guten Tagen auf Augenhöhe" mit den großen Fußballnationen ist.

In Südkorea gibt es nur 1400 registrierte Spielerinnen - "eine Katastrophe", findet Bell

Dummerweise war in Australien bislang nichts davon zu sehen. "Ich habe meine eigene Mannschaft hier nicht wiedererkannt", sagte der Coach, über den nach dem Champions-League-Triumph 2015 mit dem 1. FFC Frankfurt das putzige Buch "Colin Bell - Der (Frauen)-Fußball-Versteher" erschienen war. In der Halbzeit gegen Marokko habe er seinen Spielerinnen am vergangenen Sonntag auf Koreanisch zugerufen: "Das seid ihr nicht!" Sie seien in diese Partie "wie in ein Freundschaftsspiel" gegangen.

Der Engländer Bell hat noch in derselben Nacht an einem Konzept gearbeitet, um seinem Verband bald etwas Handfestes zu übergeben. Die Bettlektüre für die Funktionäre ist fast fertig; darin steht, was sich ändern müsse, um international den Anschluss nicht völlig zu verpassen. Bell: "Das können sie in die Tonne kloppen oder aufwachen." Der Coach hat beobachtet, dass sein Team bei der WM weder das körperliche Level mitgehen noch dem mentalen Druck standhalten konnte. Die koreanische WK League verkörpert nun mal das Gegenteil von Weltniveau. "Die Spiele in der Liga sind zu langsam, die Intensität im Training ist zu niedrig", sagt Bell. Zur WM-Vorbereitung seien einige Spielerinnen erschienen, "ohne die Wochen vorher einen einzigen richtigen Sprint gemacht zu haben. Nicht im Training, nicht im Spiel."

Große Enttäuschung: Colin Bell beobachtet die Niederlage seiner südkoreanischen Mannschaft gegen Kolumbien. (Foto: Nigel Keene/Pro Sports Images/Imago)

Genauso gravierend sei das Nachwuchsproblem: Es gebe nur wenige Schulen und Universitäten, an denen Mädchen oder Frauen Fußball spielen. Während Japan aus einem Reservoir von 800 000 registrierten Spielerinnen schöpft, sind es in Südkorea 1400. Diese Zahl nennt Bell "eine Katastrophe". Die meisten seiner WM-Teilnehmerinnen hätten erst nach dem Studium mit 23, 24 Jahren richtig mit Fußball angefangen. Seine Mannschaft ist folglich die älteste der Endrunde.

Die von ihm mit 16 Jahren und 26 Tagen als jüngste WM-Spielerin der Geschichte eingewechselte Casey Phair übertünchte die Versäumnisse, denn das Talent ist in den USA gefördert worden. Südkorea unterhält bei den Frauen weder eine U 20 noch eine U 19 oder U 17. "Wenn wir an diesem System nichts ändern, werden auch die Ergebnisse nicht besser", sagt Bell, der dennoch gerne seinen bis 2024 laufenden Vertrag erfüllen würde. Vorausgesetzt, der Verband hat keine anderen Pläne. Wo aber der Reformer Jürgen Klinsmann gerade die Männerauswahl trainiert, wäre es eigentlich töricht, Bell als Projektleiter bei den Frauen wieder abzuziehen. Er lebt die meiste Zeit 30 Kilometer außerhalb von Seoul. Er schätzt die Sicherheit, liebt Land und Leute. Von der Sprache beherrscht er längst viel mehr als nur Bruchstücke.

Dass dem ehemaligen Zweitligaspieler des FSV Mainz 05 ein missionarischer Eifer in den Genen liegt, zeigt auch die Tatsache, dass Bell früher als Laienprediger unterwegs war. Die direkte Ansprache, die verlässliche Art des gläubigen Christen schätzen viele. Und so ein bisschen bleibt er bis zum Anpfiff wohl derjenige, den das deutsche Team fast am meisten fürchtet. Zumindest Nationalspielerin Kathrin Hendrich, die unter Bell in Frankfurt Champions-League-Siegerin wurde, hat ihren Respekt übermittelt, als sie dieser Tage sagte: "Ich weiß, dass er sein Team sowohl taktisch, vor allen Dingen was die Motivation betrifft, perfekt auf uns einstellen wird."

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