Formel 1:Im tiefen Loch

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Sebastian Vettel vor dem Großen Preis von Ungarn. (Foto: Lisa Leutner/Reuters)

Der Motorsportstandort Deutschland steht nach dem Abschied von Sebastian Vettel vor einer ungewissen Zukunft. Hoffnung macht der geplante Einstieg von Volkswagen - und Mick Schumacher, für den Vettels Rückzug eine Chance sein könnte.

Von Philipp Schneider, Budapest

Hübsch haben sie es gemacht. So hübsch, wie es geht an diesem sterilen Ort. Vorne links auf dem Tisch, an dem Sebastian Vettel gleich sprechen wird zur düsteren Weltenlage ("der Klimawandel ist die größte Herausforderung, vor der die Menschheit jemals stand"), ragt eine leibhaftige Vase auf, mit Wasser drin, oben heraus schaut eine wohlgeformte Hortensie. Das Wasser ist ein hübsches Detail. An einem Ort wie diesem, inmitten des mechanisch surrenden Fahrerlagers eines Formel-1-Rennens in den staubigen ungarischen Hügeln zwischen Mogyoród und Pest, hätte einer vielleicht eine Plastikblume erwartet, aber doch nichts, das trinkt und gedeiht. Die Hortensie passt zum Gast.

Auftritt Vettel. Beschwingt läuft er rein ins Motorhome von Aston Martin, 20 Minuten später als geplant, aber kein Stress, auf dem Weg vom letzten Interview zu diesem Interview hat ihm ein weiterer Interviewpartner aufgelauert. Es gibt so Tage, da kreisen alle Kameras nur um einen Rennfahrer, und Vettel ist ein höflicher Mensch, der schlecht nein sagen kann. "Wow", sagt Vettel zur Begrüßung, als er Platz nimmt hinter der planschenden Hortensie. "So viel Handys!"

Vettel fühlte sich gut, schwärmte von einem neuen Ferrari-Vertrag - und plötzlich war er raus

Die vielen Handys vor ihm auf dem Tisch, die nun seine Worte aufzeichnen sollen, sind ein untrüglicher Beleg dafür, dass die Formel 1 die Pandemie für beendet erklärt hat. Die Weltpresse ist nicht länger virtuell zugeschaltet, die Journalisten sitzen in engbestuhlten Reihen vor ihm, und auch wenn die Luft so stickig ist, dass man sie kleinschneiden wollte, ist das ein halbwegs würdiger Rahmen für die Verkündung des Endes einer großen Karriere: nach 16 Jahren in der Formel 1, vier Weltmeistertiteln, 53 Rennsiegen. Kaum auszudenken, Vettel hätte sich hierfür in einen sogenannten Teams-Call einklinken müssen. Wie damals, vor zwei Jahren, als er zu einer Schalte in seinen Bauernhof Neumüli im Schweizer Kanton Thurgau geladen hatte.

Der Lockdown-Vettel war gut drauf, schwärmte in Vorfreude von einem neuen Vertrag, den er bei der Scuderia Ferrari unterzeichnen wolle. Gerne langfristig. Kurz darauf rief ihn zu seiner Überraschung der Teamchef Mattia Binotto an. Bad news, Vettel war raus.

Der damals 33-jährige Rennfahrer ließ sich noch mal auf ein irrwitziges Abenteuer ein, zwei Jahre im Aston Martin. Die erste Saison im lahmen Auto verlief enttäuschend, aber es bestand Hoffnung auf Besserung. Die zweite war dann nur noch enttäuschend.

Wann er sich dazu entschieden habe, seine Karriere zu beenden? Ach, sagt Vettel, schwer zu sagen. Den Plan habe er nicht über Nacht getroffen, er sei langfristig gereift. Aber damals im Lockdown, als die Pandemie den Saisonstart um vier Monate verzögerte und er daheim sein konnte bei der Familie, "da habe ich gemerkt, dass ich nichts vermisst habe". Nicht die Rennen, nicht den Titelkampf. Schon gar nicht die permanente Reiserei rund um die Welt, das Ausrichten der Familie nach einem immer dichter gepackten Rennkalender. Die Zeit, in der die Menschheit von Lockdown zu Lockdown hetzte, war für niemanden einfach. Aber den Rennfahrer Vettel hat sie verändert, politisiert. Wer ihn fragt, ob es einen Schlüsselmoment gegeben habe, der ihn zum Klimaaktivisten machte, dem entgegnet er, es gebe keinen: "Ich habe keine Geschichte nach dem Motto: Und dann bin ich irgendwo langgelaufen und habe gesehen, dass ein Baum gefällt wurde, und das fand ich so schrecklich."

In den vergangenen Monaten gärte in Vettel eine am Ende explosive Mischung aus dem zunehmendem Unwillen, in einem eines Weltmeister nicht würdigen Autos kreisen zu müssen, und der Erkenntnis, dass sich seine persönlichen Ideale von denen der Formel 1 plötzlich stark unterschieden. "Das Ziel war immer, um Siege mitreden zu können. Jahrelang konnte ich das, bei tollen Teams", sagt er. "Aber es ist kein Geheimnis, dass die Ergebnisse hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben sind. Siege waren leider nicht möglich."

Gutes Verhältnis: Der scheidende Sebastian Vettel hält viel von Mick Schumachers Potenzial. (Foto: Andy Hone/Imago)

Dem gegenüber stand die Beobachtung, dass seine Rennleidenschaft Dinge mit sich brachte, die sich mit Umweltschutz-Gedanken schwerlich vereinbaren lassen. Wie etwa rund um die Welt zu reisen. Oder Ressourcen zu verbrennen, im wörtlichen Sinne. Da habe er nicht länger wegschauen wollen. Als Vettel schließlich sagt: "Ich konnte die Stimmen nicht länger ignorieren", da wirkt er plötzlich wie ein Fremdkörper im Motorhome. Die Stimmen, offenbar innere wie äußere, trieben ihn zu einem Entschluss, der ihm auch ein wenig Angst macht, das gibt er zu. "Vielleicht", sagt Vettel, warte auf ihn nach einer so intensiven Zeit in der Formel 1 ein Loch. "Ich weiß nicht, wie tief das Loch sein wird, ich weiß nicht, ob ich da reinfallen werde."

Mick Schumacher überlegt keine Millisekunde: "Niemand kann Sebastian ersetzen."

Eine halbe Stunde später sitzt ein paar Motorhomes weiter der Rennfahrer Mick Schumacher und spricht ebenfalls über ein Loch. Kein tiefes, ein "großes Loch", wie Schumacher sagt. Jenes, das Vettel in die Formel 1 reißen wird mit seinem Abschied. "Er wird von uns allen vermisst werden, aber von mir besonders. Er ist einer der Charaktere der Formel 1, ein besonderer Mensch, den man nur gerne haben kann."

Frage also an Schumacher junior: Ob jemand Vettel ersetzen könne als politische Stimme der Formel 1? Als wuchtige Figur, die sich ja nicht nur Umweltthemen widmete, sondern sich beispielsweise an gleicher Stelle am Hungaroring vor einem Jahr in eine Ganzkörper-Regenbogenmontur mit der Aufschrift "Same Love" hüllte, um im finsteren Herz von Viktor Orbáns homophobem Ungarn für Toleranz zu werben? Oh nein, sagt Mick Schumacher, er überlegt keine Millisekunde: "Niemand kann Sebastian ersetzen."

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Zumindest für den Politiker Vettel an der Seite des zweiten Klassensprechers Lewis Hamilton wird es vorerst keine Neubesetzung geben in der Formel 1. Der siebenmalige Weltmeister nahm die Nachricht vom Abschied seines langjährigen Konkurrenten und Partners bei der Mission Weltverbesserung entsprechend mit Trauer und Bewunderung zur Kenntnis. Den Sport in einem besseren Zustand zu verlassen, als er ihn vorgefunden habe, sei immer Vettels Ziel gewesen, lobte Hamilton. "Ich liebe dich, Mann."

Vettels Cockpit bei Aston Martin allerdings wird neu besetzt werden müssen. Dort zieht es nicht viele hin. Zumindest nicht die glücklichen Männer in den schnelleren Kisten. Grundsätzlich wäre es eine Option für Nico Hülkenberg, den allzeit bereiten Reservefahrer, der seine passgenaue Sitzschale immer griffbereit hat und mit ihr sofort im Taxi zum Flughafen rast, sobald ein Cockpit frei wird, weil mal wieder ein Stammfahrer Corona hat oder sonst irgendwie unpässlich ist. Für Fernando Alonso dürfte das freie Steuer bei Aston Martin ein willkommener Vorwand sein, um den Preis für seine Vertragsverlängerung bei Alpine in die Höhe zu treiben. Zumindest unterschwellig interessant könnte es auch für Schumacher werden, dessen Vertrag beim noch sehr viel kleineren Rennstall Haas über das Jahresende hinaus weder verkündet noch beschlossen ist.

Er lernt viel, hat Qualitäten, ist noch jung: Vettel ist von Schumacher überzeugt

Als er den Rennstallchef Lawrence Stroll über seinen Abschied informierte, habe er selbstverständlich auch eine Empfehlung für seine Nachfolge erteilt, flötet Vettel auf seiner Abschiedsveranstaltung. Siehe da: Rein zufällig sind sie auf Mick Schumacher zu sprechen gekommen. "Natürlich bin ich da nicht komplett objektiv, weil ich ihm sehr nahestehe", gesteht Vettel, "aber ich denke, dass er ein großartiger Fahrer ist. Er lernt auch dann noch, wenn andere stehen bleiben und keinen Fortschritt mehr machen. Er hat viele Qualitäten, gleichzeitig ist er noch sehr jung." So liest sich nun also das von Vettel verfasste Bewerbungsschreiben für Schumacher, das Lawrence Stroll allerdings wahlweise auf die Ablagestapel mit den Aufschriften "zu jung" oder "zu talentiert als Teamkollege für meinen Sohn Lance" legen könnte.

Und damit zum dritten Loch, das sich aufgetan hat. Am Motorsportstandort Deutschland klafft ein Krater. Zumindest vorübergehend. Ohne Vettel wird Schumacher - vorausgesetzt er erhält einen Anschlussvertrag - der letzte Vertreter der selbsternannten Automobilnation sein, ein Nachfolger ist nicht in Sicht. Am Nürburg- und Hockenheimring machen derzeit zwar Hobby-Piloten und die Hardrocker von Metallica die Piste unsicher, nicht länger aber die Formel 1, deren astronomische Antrittsprämien eigentlich nur noch in Autokratien, Erdölnationen und subventionsverliebten Demokratien zusammengekratzt werden können. Sehr viel hängt daher ab vom für 2026 geplanten Einstieg des Volkswagen-Konzerns in die Formel. Wahlweise nur mit Porsche als Partner des Red Bull Rennstalls (Tendenz: sehr wahrscheinlich) oder zusätzlich mit Audi, die sich beim Traditionsrennstall Sauber einkaufen könnten (eher unwahrscheinlich).

Als Michael Schumacher noch Rennen fuhr, da kreisten zeitweise sieben deutsche Piloten gemeinsam in der Formel 1. So schön wird es nicht mehr werden. Oder etwa doch? Am Tag der Bekanntgabe von Sebastian Vettels Rücktritt sagt Mick Schumacher: "Vielleicht gibt es ja das eine oder andere Kind, das künftig mich als Vorbild nimmt." Er lächelt.

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