Nico Rosberg war sieben Jahre alt, als die erste Autogrammkarte von ihm gedruckt wurde. Auf der war er als schmalbrüstiger Junge mit blankem Oberkörper zu sehen, der die rechte Hand lässig auf einen Rennfahrerhelm gelegt hat. Seine Unterschrift hatte Rosberg da schon einige Jahre lang geübt. Zum ersten Mal versuchte er als Vierjähriger, möglichst schöne Schnörkel hinzubekommen. "Durch meinen Namen ging das schon früh los", hat Rosberg einmal erzählt. Söhne von Weltmeistern sind gefragt - und sein Vater Keke war schließlich 1982 als schnellster Autofahrer des Planeten ausgezeichnet worden. Nico Rosberg wollte es ihm immer gleichtun. An diesem Sonntag könnte es so weit sein.
Die Jagd nach einem Lebenstraum: Das ist immer eine spannende Geschichte. Rosbergs Story aber ist wirklich eine bemerkenswerte - gerade weil der Protagonist vor seiner möglichen Krönung alles tut, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. "Ich muss weiter das machen, was mir hilft, meine Bestleistungen zu bringen", sagt Rosberg vor dem Showdown in São Paulo, "deshalb muss ich mich auf die Dinge konzentrieren, die ich beeinflussen kann."
Bloß keine Spitze setzen, bloß nicht anecken, auf keinen Fall provozieren. Rosberg klingt wie ein Diplomat. Aber davon sollte sich niemand täuschen lassen. Die öffentliche Zurückhaltung ist kein Zufall, sie folgt einem Plan.
Formel 1:Vettel steht unter verschärfter Beobachtung
Seine Beleidigungen über Boxenfunk und die Rivalität mit Max Verstappen beschäftigen die Formel 1 auch in São Paulo. Wie soll die Szene mit "Typen" umgehen, die ja eigentlich gewünscht sind?
Rosbergs Vater ist Finne, seine Mutter ist Deutsche. Aufgewachsen ist der Sohn in Monte Carlo, doch er besitzt einen deutschen Pass und tritt mit einer deutschen Rennfahrerlizenz an. Nach Michael Schumacher und Sebastian Vettel wäre Nico Rosberg der dritte deutsche Formel-1- Champion. Und im Gegenschnitt zu den beiden anderen zeigt sich besonders gut, was ihn auszeichnet, was seine Geschichte so ungewöhnlich macht.
Schumacher kam 1991 in die Formel 1, seinen ersten Titel errang er 1994. Sebastian Vettel stieg 2007 als Stammpilot ein, 2010 wurde er erstmals gekrönt. Beide waren nicht nur schnell, sie waren auch schnell erfolgreich. Rosberg dagegen brauchte einen langen Anlauf.
Seit 2006 ist er in dem Fahrgeschäft dabei, aber erst seit 2014 hat er echte Siegchancen. Seitdem unterlag er zweimal seinem Teamkollegen Lewis Hamilton. Der Brite ist ein dritter Referenzpunkt, der hilfreich ist, um Rosberg zu verstehen.
Mit Hamilton duellierte Rosberg sich bereits in den Nachwuchsserien. Ungefähr zur gleichen Zeit glückte den beiden der Sprung in die Formel 1. Dort aber entwickelten sich nicht nur ihre Karrieren ganz unterschiedlich - mit ihren Persönlichkeiten verhielt es sich genauso.
Hamilton hatte umgehend Erfolg. In seinem ersten Formel-1-Jahr verpasste er den Titel mit McLaren nur hauchdünn, in seinem zweiten gewann er ihn 2008 hauchdünn. Der Triumph stärkte Hamiltons ohnehin nicht geringes Selbstvertrauen ungemein. Es folgte eine Zeit der Suche. Seinen Vater, der ihm die Karriere im Motorsport einst mit vielen Entbehrungen ermöglicht hatte, drängte Hamilton eher unsanft aus dem Geschäft. Aufgeladen mit Ehrgeiz verpflichtete ihn Mercedes 2013 als Nachfolger für Michael Schumacher.
Ein Star, um den Star zu ersetzen - und um ihn dem eher unspektakulären Rosberg vor die Nase zu setzen, der da schon drei Jahre lang geduldig Aufbauarbeit für das Werksteam geleistet hatte. Wer ermessen will, wie sehr Rosberg die Niederlagen geschmerzt haben müssen, die er 2014 und 2015 gegen Hamilton erlitt, muss all das mitdenken. Zweimal kochte Hamilton, der Instinktfahrer, ihn, den Prädikats-Abiturienten, ab. Zweimal wurde er so bitter verprügelt, dass auch im Team sich etliche sorgten: Sind das Niederlagen, an denen er zerbricht? Rosberg aber brach nicht. Öffentlich führte er nie Klage. Beflissen wie ein vorbildlicher Beamter erschien er einfach weiter zum Dienst und feilte seine Schwächen kleiner.
Im Wettbewerb um die öffentliche Aufmerksamkeit kann er gegen den extrovertierten Teamkollegen nicht bestehen, das hat er inzwischen realisiert. Also verlegte er sich darauf, sein Profil auf der Strecke zu schärfen. Entschlossener Gegenhalten: Das war sein Plan für dieses Jahr. Und den exekutierte er mit einer Konsequenz, die nicht nur Hamilton überraschte. Dreimal kamen die beiden sich in den Rennen nahe: in Spanien, in Kanada und in Österreich. Bei keiner Begegnung steckte Rosberg zurück - selbst auf die Gefahr hin, dass beide, wie in Spanien, abflogen.
Diese Unerbittlichkeit ist neu. Und zusammen mit dem Fleiß, mit dem Rosberg das komplizierte Startprozedere übte, und Hamiltons Technik-Pech ist sie der Grund, warum Rosberg nun so gute Titelchancen hat wie noch nie.
Hamilton, 31, und Rosberg, 31: Auf der Strecke sind die beiden sich ähnlicher geworden, ihre Lebensentwürfe aber, die streben auseinander. Der inzwischen großflächig tätowierte Hamilton zelebriert sein Single-Dasein. Rosberg stellt - wenn überhaupt etwas - dann seine Oldtimer-Leidenschaft aus. Er ist verheiratet und hat eine kleine Tochter. Sein Vater, der in seiner Karriere lange eine zentrale Rolle spielte, ist geräuschlos aus dem Bild verschwunden. Am Sonntag kann Nico Rosberg ihn endgültig einholen. Zum ersten Mal biegt er als Führender auf die Zielgerade der Saison.