Es handelt sich um eine fortgesetzte Klage, seit die Hybrid-Turbos in den Rennwagen stecken: Die Formel 1 sei zu leise. Für den Motorraum mag das ja gelten, für die Cockpits nicht. Bestes Beispiel sind Sebastian Vettel und seine Funksprüche beim jüngsten Grand Prix in Mexiko. Deshalb soll der ehemalige Weltmeister in Diensten des kriselnden Ferrari-Teams für den Großen Preis von Brasilien an diesem Wochenende einen Maulkorb bekommen haben, damit dieser seinen Frust über die Kollegen (aber auch über sein Team und seine eigene Lage) nicht wieder in Schimpftiraden ablässt.
Die Beleidigungen von Gegenspieler Max Verstappen ("Er ist ein Bastard, das ist er!") und vor allem gegen den Renndirektor Charlie Whiting ("F**k off") haben zwar nicht direkt mit dem nachträglichen Verlust seines dritten Platzes im Rennen zu tun, aber vermutlich bei der Entscheidung der Kommissare über das fragliche Manöver gegen Daniel Ricciardo eine Rolle gespielt.
Positionskämpfe in der Formel 1:Die Kindergarten-WM
Im Ringen um Platz drei bekriegen sich Sebastian Vettel, Max Verstappen und Daniel Ricciardo auf immer unflätigere Weise. Ihre riskanten Manöver könnten sogar noch das Titelrennen beeinflussen.
Die Diskussion geht vor dem vorletzten WM-Lauf weiter. Vettel und Verstappen waren turnusmäßig zur donnerstäglichen Talkrunde eingeladen, außerordentlich lud sich Funktionär Whiting als zusätzlicher Gast ein, um per Videoanalyse beispielsweise zu verdeutlichen, warum Max Verstappen in Mexiko für das Abkürzen der Strecke bestraft wurde und Lewis Hamilton nicht. Der Niederländer akzeptiert das nicht: "Entweder bekommen alle eine Strafe oder niemand." Hamilton gibt wenig überraschend den Anpasser: "Der Job der Kommissare ist nicht einfach, jede Situation ist anders." Und Vettel sagt über sein Gerangel mit Ricciardo: "Das sieht schlimmer aus, als es war." Es ist wie beim Fernsehgericht, nur ohne juristische Konsequenzen.
Vettel muss froh sein, dass er starten darf
Für Aufseher Whiting ist die Sache anscheinend erledigt: "So etwas passiert in der Hitze des Gefechts, aber Sebastian hat sich sofort entschuldigt." Mit britischem Humor fügt er an: "Es ist nicht das erste Mal, dass Schimpfwörter gebraucht werden. Aber dass sie mich betroffen haben, war etwas unglücklich."
Tatsächlich muss Vettel froh sein, dass er überhaupt in São Paulo starten darf, wo sein deutscher Landsmann Nico Rosberg schon Weltmeister werden kann, wenn er nur sieben Punkte mehr holt als Lewis Hamilton. Funktionäre beleidigen, dazu so massiv und öffentlich, das lässt sich kein Weltverband gefallen. Die FIA hat auch umgehend ein Ermittlungsverfahren gegen den 29-Jährigen eingeleitet. Dass das strenge Verkehrsgericht den Heppenheimer davonkommen ließ, hängt sicher mit der umgehenden Entschuldigung und zusätzlichen Reue-Briefen zusammen. Allerdings steht Vettel von nun an unter verschärfter Beobachtung. Das Statement von Jean Todt, dem Moralapostel der Formel 1 und ehemaligen Ferrari-Direktor, lautet: "Angesichts der Ernsthaftigkeit der Entschuldigung und seines großen Engagements hat der Präsident beschlossen, ausnahmsweise keine Disziplinarmaßnahmen gegen Sebastian Vettel zu vollziehen."
Aber geht es tatsächlich nur um die Wortwahl oder die Verkehrssitten auf der Rennstrecke? Die Diskussion reicht weiter und spaltet die Formel-1-Gemeinde so sehr wie das Verhalten des niederländischen Pistenschrecks Max Verstappen. Tenor: Alle fordern mehr Typen unter den Piloten, und wenn sich dann mal jemand atypisch zur political correctness verhalte, sei das Gejammer groß. Nicht nur die neuen Vermarkter von Liberty Media sind auf der Suche nach einer neuen "Helden-Formel".
Es ist zwar nicht korrekt, die Diskussionen von Mexiko über Funk, die verschiedenen Aktionen auf der Rennstrecke und die anschließenden Bestrafungen miteinander zu vermischen, aber sie münden in die Frage, ob die Funktionäre sich zu stark in den Sport einbringen - oder aber die Regeln zu schwammig formuliert sind. In jedem Fall trägt das gewaltige Echo dazu bei, die Formel 1 im Gespräch zu halten und rechtfertigt damit auch die Gnade vor Recht.
Der Funkverkehr ist - selbst unter der Zensur durch Pieptöne - ein willkommenes und belebendes Element der Formel-1-Übertragungen geworden. Wenn schon die Motoren so leise sind, bleibt das Hörspiel spannend. Die Piloten wissen auch genau, was sie da sagen und warum. Die unpolitischen Fahrer schimpfen über andere, die technisch orientierten streiten mit dem Team über die Strategie, die erfahrenen wie Vettel machen mit ihren Ansagen Politik - und weisen mit jeder Klage Whiting darauf hin, er und seine Kollegen im Kontrollturm mögen doch das betreffende Manöver mal genauer angucken.
Max Verstappen, ebenfalls ein Aktivist des Funkknopfs, findet die Entgleisungen nicht ungewöhnlich. "Würde man Fußballern während des Wettkampfs ein Mikrofon verpassen, bekäme man ähnliches zu hören. Wenn man so etwas nicht hören will, sollte man es erst gar nicht übertragen", schlägt er vor. Dass ausgerechnet die britische Boulevardpresse, die nicht gerade als Gralshüter der feinen Umgangssprache bekannt ist, auf Sebastian Vettel eindrosch, ist eine ironische Spitzkehre. Für den Formel-1-Chef Bernie Ecclestone ist die Kontroverse indes gar keine: "Ob gut oder schlecht", sagt der 86-Jährige, "Vettel hat wenigstens eine Meinung. Und das ist richtig so."